Immer wieder kommt es zwischen Karlsruhe und Luxemburg zum Zwist bei der Frage: Wer hat wann das letzte Wort? Auf dem Anwaltstag diskutierten die Präsidenten beider Gerichte die Rolle von EuGH und BVerfG bei der Kontrolle über das europäische Recht – wobei klar wurde: Am eigenen Standpunkt will auch künftig keiner von beiden rütteln lassen. Von Martin W. Huff.
Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den beiden europäischen Gerichten, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, ist nicht unkompliziert. Beide europäischen Gerichte setzen sich kontrovers mit dem BVerfG auseinander, und Karlsruhe folgt durchaus nicht immer der Rechtsprechung aus Europa.
Noch komplizierter und unübersichtlicher wird es werden, wenn die EU als Institution dem Europarat beitritt und dann auch Rechtsakte der Union und Gerichtsentscheidungen des EuGH vom EGMR auf einen möglichen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention überprüft werden können. Dies könnte etwa bei überlangen Verfahrensdauern der Fall sein.
Schon heute ist dagegen immer noch im Detail unklar, wie BVerfG und EuGH zueinander stehen. Das höchste deutsche Gericht will die Kontrolle über das europäische Recht nicht aufgeben, soweit es in die nationale Rechtsordnung eingreift. Karlsruhe behalte sich die Kompetenz zur Prüfung von Handlungen der EU vor, machte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle dann auch in Straßburg bei der Diskussion mit seinem europäischen Kollegen Vassilios Skouris deutlich.
Karlsruhe sieht sich Grundsatz der Europafreundlichkeit verpflichtet
Hintergrund der Auseinandersetzungen ist das unterschiedliche Verständnis der Aufgaben. Das BVerfG beharrt darauf, auch Entscheidungen der EU und des EuGH nach deutschem Verfassungsrecht überprüfen und erforderlichenfalls beanstanden zu dürfen.
Der EuGH sieht sich demgegenüber in der Rolle, letztendlich darüber zu entscheiden, wie EU-Verordnungen und -Richtlinien einheitlich für alle 27 Mitgliedstaaten auszulegen sind. Dabei könne auch einmal das Rechtsverständnis eines Mitgliedsstaats nicht so zur Geltung kommen, wie man es sich dort wünscht.
Voßkuhle betonte in Straßburg allerdings, dass das BVerfG seine Kompetenzen zur Überprüfung und eventuellen Beanstaltung nur als solche "für den Ausnahmefall" ansehe. Er wies dabei auch die Kritik zurück, dass das Gericht in jüngeren Entscheidungen zu wenig in den Konflikt mit dem EuGH gegangen sei, sondern dessen Entscheidungen akzeptiert habe. Es gebe, so betonte er, den Grundsatz der Europafreundlichkeit und auch das BVerfG sehe sich als diesem verpflichtet an.
Voßkuhle: "Vorlage im Vorabentscheidungsverfahren zwingend notwendig"
In seinem Urteil vom 6. Juli 2010 (Az. 2 BvR 2661/06) hatte das BVerfG eine in Deutschland stark kritisierte arbeitsrechtliche Rechtsprechung des EuGH noch im Einklang mit dem hiesigen Verfassungsrecht gesehen. Nur in seltenen Ausnahmefällen könne es hier einmal einen Vorrang des deutschen Rechts geben. Diese Entscheidung aus Karlsruhe war von manchen als ein "Einknicken" vor dem EuGH angesehen worden. Voßkuhle bestritt das in der Diskussion vehement.
Diese nun geäußerte Kritik ist entgegengesetzt zu derjenigen, die am BVerfG nach seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag geübt worden war. Karlsruhe war teilweise als europafeindlich kritisiert worden, weil die Verfassungsrichter sich vorbehalten hatten, Rechtsakte der Europäischen Union gegebenenfalls zu überprüfen.
Voßkuhle sah aber "Verbundtechniken", wie er sie bezeichnete, als notwendig an, damit das BVerfG und die beiden europäischen Gerichte in Zukunft vernünftig zusammenarbeiten können. Er betonte auch, dass Karlsruhe die Vorlage nationaler deutscher Gerichte an den EuGH im Vorabendscheidungsverfahren für zwingend notwendig hält, sofern die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen. "Wenn ein Gericht nicht vorlegt, verstößt es gegen den Grundsatz des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter", stellte Voßkuhle klar. Und hob hervor, dass auch das BVerfG durchaus bereit sei, bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Verfahren dem EuGH vorzulegen.
Skouris:"Keine Entwicklung des EuGH zu Gericht für Grundrechtsschutz"
Der EuGH beansprucht seinerseits den absoluten Vorrang des EU-Rechts; nur so könne die einheitliche Rechtsanwendung in den 27 Mitgliedstaaten gesichert werden. Diese Auffassung vertrat Skouris noch einmal nachdrücklich. Anspielend auf den Namen der Veranstaltung "Wer hat das letzte Wort?" verdeutlichte er aber auch: "Wir haben doch weder das erste, noch das letzte Wort.".
Luxemburg werde im Grundsatz nur aufgrund von Vorlagen nationaler Gerichte tätig und müsse dann über Rechtsfragen befinden. "Die letzte Entscheidung liegt doch dann wieder bei den nationalen Gerichten", so der Präsident. Ein Raunen ging durch den Saal, als er hinzufügte "Wir halten uns doch oft zurück". Deutlich wurde dabei jedenfalls die Überzeugung des EuGH, dass sich das BVerfG in seinen Zuständigkeiten bei den Entscheidungen zu den Verträgen von Lissabon und Maastricht angegriffen fühlt.
Auf die Nachfrage von DAV-Präsident Wolfgang Ewer nach dem Szenario der Lösung eines grundsätzlichen Konfliks zwischen EuGH und BVerfG nach der Rechtsprechung des BVerfG spielte der EuGH-Präsident den Ausnahmefall einmal durch: Würde das BVerfG einen "ausbrechenden Rechtsakt" (so hat es das BVerfG bezeichnet) des EuGH feststellen, der nicht mit dem deutschen Verfassungsrecht in Einklang steht, müsste die EU-Kommission, wenn diese die Ansicht des deutschen Verfassungsgerichts nicht teilt, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einleiten.
Über dessen Rechtsmäßigkeit hätten dann wiederum die Luxemburger Richter zu entscheiden, womit sie wiederum das letzte Wort hätten. Dies aber wäre ein Verfassungs- und Europarechtskonflikt, den gerade der Bürger nicht mehr verstehe und damit zu einem erheblichen Vertrauensverlust führen würde.
So schön solche Gedankenspiele auch seien: "Einen solchen Fall wird es nicht geben", beschwichtigte Skouris anschließend in durchaus humorvollem Ton.
Voßkuhle betonte, dass es "die verschiedenen Verfassungsidentitäten zu wahren und zu berücksichtigen" gelte. Hierzu gehörten in Deutschland das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen, das Berufsbeamtentum und der Datenschutz. "Diese Identität zu schützen, sie einzubauen und gleichzeitig die Einheit des Rechts nicht zu gefährden, das ist die Aufgabe, vor der wir stehen", so der Präsident des höchsten deutschen Gerichts. Dies könne zu Problemen führen, wenn man nahe an den "Identitätskern" kommt. Er glaube aber, dass es "in nächster Zeit nicht unbedingt dazu kommen" werde.
EuGH-Präsident Skouris stellte weiter klar, der EuGH wolle sich nicht zu einem Gericht für den Grundrechtsschutz entwickeln. Dieser sei "sehr gut aufgehoben bei den nationalen Verfassungsgerichten und beim EGMR".
Beinahe ungewohnt einig waren die beiden Gerichtspräsidenten sich in der Sorge um den EGMR in Straßburg. Das Gericht für Menschenrechte sei aufgrund der Vielzahl der anhängigen Verfahren kaum mehr in der Lage, rasch zu entscheiden.
Martin W. Huff ist Rechtsanwalt und Journalist in Leverkusen.
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Martin W. Huff, Verhältnis BVerfG und EuGH: . In: Legal Tribune Online, 10.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3490 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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