Mangelnde Compliance-Kultur und Rechtsdurchsetzung führen zu bewussten Rechtsverstößen von Unternehmern gegenüber Verbrauchern. Ob kollektiver Rechtsschutz die Antwort auf die Problematik sein kann, erläutert Tilman Petersen.
So leicht es ist, im Internet zu buchen, so leicht ist es auch, sich zu verbuchen: An der falschen Stelle einen Haken gesetzt oder falsch geklickt, schon ist eine Erklärung abgegeben, die so nicht abgegeben werden sollte – und damit ein Flug oder Ferienhaus gebucht, das gar nicht gebucht werden sollte. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) einiger Portale sehen für solche Fälle vor, den unfreiwilligen Kunden 100 Euro für eine "Stornierung" zahlen zu lassen. Die Summe wird manchmal "aus Kulanz" erlassen, wenn eine erneute Buchung über denselben Anbieter erfolgt.
Dass solche Klauseln keine Einzelfälle, sondern ein häufiges Phänomen sind, zeigt ein Blick in den Jahresbericht 2016/2017 der Verbraucherzentrale Bundesverband. Der Bericht beschreibt eine Vielzahl vergleichbarer Praktiken, von aufgedrängten Reiserücktrittsversicherungen bis hin zu unzulässigen Preisanpassungen. Da es sich bei solchen Praktiken um ein größeres Problem handelt, stellt sich die Frage, ob das geltende Recht hinreichende Instrumentarien kennt, diese rechtswidrige Praxis zu unterbinden.
Verbraucher gegen das Kleingedruckte
Sieht sich der Verbraucher wie im eingangs geschilderten Fall einem unzulässigen Zahlungsverlangen ausgesetzt, so kann er die Zahlung schlicht verweigern und sich gegen eine Leistungsklage des Geschäftsgegners verteidigen. Alternativ hat der Verbraucher die Möglichkeit, vor den Zivilgerichten eine negative Feststellungsklage zu erheben, um geltend zu machen, dass die Forderung unberechtigt ist und nicht besteht. Seine Chancen stünden gut.
Nach dispositivem Recht ist die Lage klar: Irrtümlich klicken, sich verschreiben oder ein falsches Häkchen setzen – all das stellt einen Anfechtungsgrund dar. Ficht der Verbraucher an, so muss der Erklärende nach § 122 Abs. 1 BGB den Schaden ersetzen, den der Geschäftspartner dadurch erleidet, dass er auf die Gültigkeit der Erklärung vertraut. Eine pauschale Zahlung von 100 Euro sieht das BGB für eine Anfechtung aber nicht vor.
Es liegt nahe, dass die besprochene Klausel über die Zahlung von 100 Euro im Fall einer Anfechtung gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB verstößt. Eine solche Klausel widerspricht dem schadensrechtlichen Bereicherungsverbot. Sie dürfte daher mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, unvereinbar sein. Ersatzfähig sind – nach dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung – allenfalls Kosten, die dem Geschäftspartner aus der Stornierung entstanden sind.
Wer außerdem noch klagen könnte
Neben zivilprozessualen Klagen kann eine sogenannte qualifizierte Einrichtung – wie etwa der Verbraucherverband - nach dem Unterlassungsklagengesetz gegen die Verwendung der Klausel vorgehen. Ein danach berechtigter Verband kann verlangen, die Verwendung entsprechender Bestimmungen in den AGB zu unterlassen.
Die Kombination aus unzulässiger AGB über die Zahlung von 100 Euro und dem Erlass im Fall einer Neubuchung könnte zusätzlich gegen das Lauterkeitsrecht verstoßen. Bestimmte, qualifizierte Rechtsbrüche unterfallen dem Lauterkeitsrecht. Solch ein qualifizierter Rechtsbruch könnte hier vorliegen, weil faktisch ein Zwang zur Neubuchung bei demselben Geschäftspartner erzeugt wird. Dies hat potenziell zur Folge, dass Wettbewerber nicht zum Zuge kommen. Ein solcher Verstoß könnte von Wettbewerbern oder wiederum qualifizierten Verbänden durchgesetzt werden.
Das Verhalten als Ordnungswidrigkeit zu sanktionieren kommt hingegen nicht in Betracht. Nach § 130 OWiG ist die vorsätzliche oder fahrlässige Unterlassung von Aufsichtsmaßnahmen ordnungswidrig, wenn diese Maßnahmen erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist. Ein Bußgeld könnte nach § 30 OWiG gegen das Unternehmen verhängt werden. Allerdings ist weder die Verwendung unwirksamer AGB noch ein Rechtsbruch nach UWG mit Strafe oder Geldbuße bedroht.
Lieber zahlen als Ärger
Es existiert also eine Vielzahl an Mechanismen, die den einzelnen Verbraucher und das Verbraucherkollektiv vor der Geltendmachung unberechtigter Forderungen schützen. Trotzdem ist die Verwendung unzulässiger AGB kein Einzelfall.
Häufig ist der Grund, dass die Rechtsdurchsetzung dem einzelnen Verbraucher kaum rational erscheint. Vielfach wird ein mit einem Zahlungsverlangen konfrontierter Verbraucher es vorziehen, für 100 Euro in Ruhe gelassen zu werden, als sich gegen eine Klage zu verteidigen, geschweige denn selbst eine Klage anzustrengen. Der Rechtsdurchsetzung durch Verbände ist durch Ressourcenknappheit ebenfalls eine Grenze gesetzt.
In dieser Situation entfaltet das geltende Recht allein eine geringe präventiv verhaltenssteuernde Wirkung auf die Unternehmen. Denn weder ist die Gefahr für sie groß, für einen Verstoß überhaupt belangt zu werden, noch müssen sie die Konsequenzen eines Verstoßes ernsthaft fürchten: Der individuelle Rechtsschutz wirkt nur zwischen den Parteien und wird praktisch kaum genutzt. Der auf Unterlassen gerichtete Rechtsschutz durch Verbände wirkt hingegen nur für die Zukunft. Anreize für Unternehmen, eine Compliance-Kultur im Vorfeld der Rechtsdurchsetzung zu pflegen, fehlen.
Wie man das Problem lösen könnte
An Ideen, den gegenwärtigen Rechtszustand zu ändern, fehlt es dabei nicht. Echter kollektiver Rechtsschutz oder die Einführung einer staatlichen Durchsetzungsinstanz – ähnlich einem attorney general in den USA – wären geeignet, effektiver gegen Verstöße vorzugehen. Vorschläge in diese Richtung liegen auf dem Tisch und sind nicht neu: Bereits 2013 empfahl die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten die Einführung kollektiven Rechtsschutzes zur Durchsetzung der durch Unionsrecht garantierten Rechte.
Ein Referentenentwurf des BMJV zur Umsetzung der Empfehlung schaffte es jedoch 2017 nicht über die Ressortabstimmung hinaus. Auch ein Appell der Länderjustizminister in der Justizministerkonferenz 2017, geeignete Instrumente kollektiven Rechtsschutzes vorzusehen, verhallte.
Im Koalitionsvertrag sieht die Große Koalitionvor, noch in diesem Jahr kollektiven Rechtsschutz in Form einer Musterfeststellungsklage einzuführen. Gleichzeitig sucht der Koalitionsvertrag die Schaffung einer ausufernden Klageindustrie zu verhindern. Vorbau gegen Missbrauch eines potentiellen Massenklagerechts muss natürlich geleistet werden. Ein Missbrauch könnte und sollte aber auch als solcher, beispielsweise über das Berufsrecht der Anwaltschaft, das Vergütungsrecht oder das Kostenrecht bekämpft werden. Einen effektiven Klageweg übermäßig zu beschränken, zu verzögern oder gleich komplett zu negieren, ist hingegen wenig differenziert. Schließlich ist der effektive Rechtsschutz auch durch das Grundgesetz gewährleistet.
Auf die jahrelange nationale Untätigkeit hierzulande reagierte die Europäische Kommission inzwischen mit einem eigenen Richtlinienvorschlag zur Einführung kollektiven Rechtsschutzes. Dieser sieht vor, dass qualifizierte Einrichtungen Rechte eines Verbraucherkollektivs auf Nacherfüllung, Schadensersatz oder Rückabwicklung direkt durchsetzen – und zwar ohne den Umweg einer Feststellungsklage. Der Vorschlag auf europäischer Ebene geht damit über die bloße Musterfeststellung, wie sie in Deutschland angepeilt ist, hinaus.
Sicher werden die diskutierten Vorschläge Rechtsverstöße von Unternehmern, etwa in Form der Verwendung unwirksamer AGB, nicht ausnahmslos unterbinden können. Einen Beitrag zum Abbau des rationalen Desinteresses des einzelnen Verbrauchers leisten sie hingegen allemal.
Der Autor Dr. Tilman Petersen LL.M. (Columbia) ist Rechtsanwalt in Hamburg.
Verbraucherschutz: . In: Legal Tribune Online, 23.04.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28223 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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