Ob "Kachelmann" oder "Mollath": Regelmäßig wird die Justiz für Urteile gescholten, die Außenstehende auch ohne Aktenkenntnis für falsch halten. Tatsächlich stellt ein Rechtssystem nichts mehr in Frage als ein Fehlurteil, das selbst das beste Gericht zu oft nicht vermeiden kann, weil die menschliche Erkenntnis begrenzt ist, meint Lorenz Leitmeier.
Was in der Tatnacht wirklich geschah, ist für Ermittler wie Strafrichter meist nur schwer zugänglich. Wichtigstes Beweismittel ist in der Regel der Zeuge. Selbst der aufmerksamste Zeuge wird das Geschehen aber immer subjektiv wahrnehmen, geprägt von seiner Biographie, persönlichen Disposition und individuellen Erfahrungen.
Wer selbst Opfer eines Fausthiebs wurde, wird Faustschläge immer anders bewerten als jemand, der diese Erfahrung noch nicht machen musste. Wer ein Eigeninteresse hat, Loyalität gegenüber dem Angeklagten empfindet oder sich dem Richter gegenüber (vermeintlich) gehorsam zeigt, will sich an das eine erinnern, an das andere nicht. Bei einem Verfahren mit vierzehn Zeugen weiß der Richter, wer wann was gemacht haben soll, nach dem ersten Zeugen sicher, nach dem vierten kaum noch und ab dem siebten gar nicht mehr.
Die Tat, die die Staatsanwaltschaft Kachelmann vorwarf, hatte zwar nur eine Augenzeugin. Dennoch entspann sich vor Gericht ein dramatisches Gewirr aus Interessen, Erinnerungen, Gedächtnislücken, Belastungs- und Entlastungsszenarien, das mehrere Wochen lang die Zeitungen füllte. Dem Gericht blieb die Aufgabe überlassen, daraus so etwas wie eine "objektive Wahrheit" zu ermitteln.
Rechtsansichten sind immer nur vertretbar, niemals zwingend
Die gibt es aber nicht. Eine voraussetzungslose Abbildung der Wirklichkeit von einem archimedischen Punkt aus ist nicht möglich. Das "Ding an sich" ist für niemanden erkennbar – jedenfalls, solange Immanuel Kant tot ist. Mit dieser subjektiven Konstitution der Wirklichkeit muss der Strafprozess leben, weil die menschliche Erkenntnis so funktioniert.
Damit ist das Material sehr fragwürdig, aus dem das Gericht sein Urteil bilden soll: Eine bestenfalls wacklige Sicht auf die Tatsachen liefert den Stoff, auf den das Gericht seine vertretbare, niemals zwingende Rechtsansicht anwendet.
Vorgeschaltet sind dann oft – wie im Fall Mollath – Einschätzungen von Gutachtern: leidet der Angeklagte unter Wahnvorstellungen oder haben seine Vorwürfe Realitätsbezug? Müssen seine Mitmenschen wirklich Angst vor dem Mann haben oder ist er vollkommen ungefährlich?
Fehlurteile sind nie auszuschließen
Die Regeln der StPO zur Urteilsfindung sind gut, ein Fehlurteil ausschließen können sie freilich nicht.
Eine Verurteilung setzt voraus, dass der Sachverhalt zur vollen Überzeugung des Tatrichters festgestellt ist. Bleiben trotz Ausschöpfung aller Beweismittel begründete Zweifel, ist der Angeklagte freizusprechen. Bleiben nur theoretische Zweifel, ist er zu verurteilen.
Wollte man die Verurteilungen Unschuldiger sicher ausschließen, müsste man die Messlatte höher legen. Eine Verurteilung dürfte nur noch möglich sein, wenn "gar keine Zweifel" bestehen.
Auch so wären allerdings unzählige Fehlurteile sicher, nämlich die Freisprüche höchstwahrscheinlich Schuldiger. Damit aber würde der Staat seinen Strafanspruch aufgeben und den Gesellschaftsvertrag kündigen, der sein Gewaltmonopol legitimiert. Verfassungsrechtlich wäre dies mindestens genauso heikel wie die Verurteilungen Unschuldiger aufgrund des aktuellen Systems.
Begründete und theoretische Zweifel
Die StPO wählt mit der Unterscheidung "begründete" oder "bloß theoretische" Zweifel also eine sinnvolle Grenze: Geringere Voraussetzungen für eine Verurteilung ("überwiegende Wahrscheinlichkeit") wären unerträglich, strengere Voraussetzungen ("Sicherheit") genauso.
Damit sind aber Fehlurteile im System angelegt: Wer regelmäßig Leute freispricht, die zu 80 Prozent schuldig sind, spricht regelmäßig zu Unrecht frei. Diese Fehlurteile sind zu Recht verfassungsrechtlich gewollt; wer allerdings bei einem Freispruch eines überwiegend wahrscheinlich Schuldigen die überwiegend wahrscheinlich geschädigte Tochter als Nebenklägerin erlebt hat, weiß, was Fehlurteile in diese Richtung bedeuten.
Was aber ist, wenn ein Richter einer Strafkammer begründete Zweifel hat, der andere nur theoretische? Kann man über Zweifel nach der Mehrheitsregel entscheiden, eine qualitative Frage quantitativ klären?
Auch Restrisiken können sehr real werden
Begründete Zweifel eines Richters stecken die ganze Kammer an. Das Gericht kann nicht mehr behaupten, "keine begründeten Zweifel" zu haben. Dennoch sieht die StPO die Mehrheitsregel vor. Die vier anderen Richter können den Zweifelnden überstimmen. Strenggenommen fällen sie damit ein Fehlurteil – freilich von der StPO so gewollt. Logischer ist da die Regel des US-amerikanischen Rechtssystems, wonach die Jury ihre Urteile einstimmig fällen muss.
Ein Grund für Fehlurteile ist selbstredend menschliches Versagen. Systematisch bedeutender ist allerdings, dass Fehlurteile in der Prozessordnung unvermeidlich angelegt sind: Der Richter wird mit einem unzulänglichen Beweismittel wie einem Zeugen immer nur unzureichende Erkenntnisse erlangen.
Es kann daher nur darum gehen, die Zahl der Fehlurteile zu minimieren. Der StPO gelingt dies mit der Zweifelsregel, wenngleich ein Restrisiko immer bleiben wird, das als zunächst nur statistische Größe durchaus sehr real werden kann.
Der Autor Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München.
Fehlurteile sind der StPO immanent: . In: Legal Tribune Online, 18.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7995 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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