Boris Johnson ist als Parteiführer der Konservativen zurückgetreten, will aber zunächst Premierminister bleiben. Warum dieses Vorgehen verfassungsrechtlich ungewöhnlich ist und wie sein Nachfolger gewählt wird, erklärt Johannes M. Jäger.
Das politische System des Vereinigten Königreichs (UK) ist in Europa einzigartig. Dies zeigt sich einmal mehr bei der Frage der Nachfolge im Partei- und Staatsamt.
Denn in diesem Land ohne Verfassungsurkunde hat sich weitgehend zäsurfrei jahrhundertelang eine durchaus eigenartige politische Kultur entwickelt. Vieles, was in Deutschland aus rechtskulturellen und historischen Gründen im Parteien- und Parlamentsrecht normiert ist, wird jenseits der Straße von Dover über politische Arrangements geregelt.
Einige dieser Arrangements weisen eine normähnliche Verbindlichkeit auf und werden Verfassungskonventionen (constitutional conventions) genannt. Derartige Arrangements betreffen auch den party leader. Die Übersetzung "Parteiführer" illustriert dessen Stellung besser als der im Deutschen verwendete Begriff des "Parteivorsitzenden". Anders als der deutsche Parteivorsitzende, der nur die außerparlamentarische Parteiorganisation übernimmt, führt der party leader seine Partei in all ihren Rollen. Er ist der Vorsitzende der Parteiorganisation außerhalb und der Fraktionen innerhalb des Parlaments. Stellt seine Partei die Mehrheit im Unterhaus, avanciert er automatisch zum natürlichen Kandidaten für die nur noch formelle Ernennung zum Premierminister durch den Monarchen.
Von dieser umfassenden Machtposition ausgehend ist das innerparteiliche Wahlprozedere im UK keine rein zivilrechtliche Angelegenheit des im Übrigen dort wie in Deutschland als modifiziertes Vereinsrecht erscheinenden Parteienrechts. Die Wahl des Parteiführers ist unmittelbar "of utmost constitutional significance", wie der britische Verfassungsexperte Geraint Parry pointiert schreibt.
Wahl und Abwahl des Parteiführers der Konservativen ist staatspolitische Grundsatzfrage
Da es anders als in Deutschland kein umfassendes britisches Parteiengesetz – nur ein Wahl- und Parteienfinanzierungsgesetz – gibt, entscheidet jede Partei autonom über die Ausgestaltung ihres Satzungsrechts. In Deutschland wäre diese Situation undenkbar, da aus historischen Gründen das Grund- und das Parteiengesetz die Parteien zur Einhaltung einer innerparteilichen Demokratie zwingen und dabei auch die Mitgliederur- bzw. Parteitagswahl des Vorsitzenden verlangen.
Dagegen wählte die besonders royalistisch und am britischen Klassensystem festhaltende Conservative Party bis 1965 schlicht keinen Parteiführer. Er wurde stattdessen durch einen mystischen und erlauchten magic circle – einem informellen Zirkel aus den wichtigsten gewählten Abgeordneten und erblichen Mitgliedern im Oberhaus – ernannt.
Die heute noch regierende Queen Elizabeth II. war es, die im Jahre 1963 den Anstoß für eine Verrechtlichung der konservativen Parteiführerwahlen der damals schon Jahrhunderte alten Partei lieferte. Als Harold Macmillan, der bis zu diesem Zeitpunkt Parteiführer und Premierminister war, plötzlich von seinen Ämtern zurücktrat, war die Nachfolgefrage innerhalb der Partei zunächst nicht zu klären. Kraft ihrer royalen Autorität, und um ein staatspolitisches Machtvakuum zu verhindern, ernannte die Königin kurzerhand ihren Favoriten, Alec Douglas-Home, zum Premierminister und damit uno actu zum Parteiführer.
Freilich steht der Königin das Recht der Ernennung ihres Premierministers als ein königliches Vorrecht (royal prerogative) zu und sie könnte davon jederzeit Gebrauch machen, auch gegenüber Johnson und seinen Nachfolgern.
Kein Bekenntnis zur Volkssouveränität in britischer Verfassung
Allerdings hat sich als eine weitere Verfassungskonvention eingebürgert, wonach sie nur noch die Ernennung des Premierministers vornimmt, die Frage der Auswahl der in Frage kommenden Personen aber den Parteien überlässt.
Bei alledem spielt die Frage, ob Mitglieder beteiligt werden, mithin ob dem universellen (innerparteilichen) Demokratieprinzip Rechnung getragen wird, bis heute keinerlei rechtlich relevante Rolle. Die britische Verfassung selbst kennt nämlich im Unterschied zu allen westlichen Verfassungsstaaten schon kein Bekenntnis zur Volkssouveränität. Der rechtliche – nicht der praktisch-politische – Souverän im UK ist die Queen-in-Parliament, das heißt die Königin und die beiden Häuser des Parlaments.
In der darauffolgenden Zeit erfolgte die Parteiführerwahl nur durch die Mitglieder der Unterhausfraktion im sogenannten 1922 Committee. Dieses Komitee vertritt jene Abgeordnete, die nicht Minister oder Staatssekretäre sind und die dadurch zu den backbencher zählen. Diese "einfachen" Abgeordneten sind – vermöge ihrer je im britischen Mehrheitswahlrecht zwingend direkt gewonnenen Wahlkreise – keineswegs Hinterbänkler im deutschen Sinne; sie bilden das eigentliche Rückgrat der Partei und die Machtbasis für den jeweiligen Parteiführer.
Erst nach der schallenden Wahlniederlage gegen die damals direktdemokratisch reformierte Labour Party unter Tony Blair wurden 1998 die bis heute geltenden Regularien formell eingeführt. Dies sind die "Procedure for the Election of the Leader of the Conservative Party" und die historisch erste Parteisatzung selbst. Sie beinhalten eine teil- bzw. zeitweise Einbeziehung der Mitglieder der außerparlamentarischen Parteiorganisation mit dem Ziel einer Reform hin zu einer offenen, modernen Volkspartei.
Konstellationen bei Parteiführerwahl
Zu einer Parteiführerwahl kann es heute durch drei Situationen kommen.
Zunächst kann der Amtsinhaber eine satzungsrechtlich nicht näher geregelte Vertrauensfrage stellen – das tat Boris Johnson jedoch nicht.
Vielmehr initiierten mehr als 15 Prozent der Mitglieder des 1922 Committee zunächst ein Misstrauensvotum, das aber keine Mehrheit in der gesamten Unterhausfraktion fand. Dadurch war, ungeachtet der danach aufgetretenen politischen Skandale um den Premierminister, ein weiteres Votum für ein Jahr unzulässig.
Deshalb blieb nur, dass der Amtsinhaber rechtlich freiwillig – aber durchaus aufgrund äußeren, politischen Drucks – zurücktritt.
Tory-Mitglieder werden nicht automatisch an Parteiführerwahl beteiligt
Demgemäß findet in Kürze eine Neuwahl des Parteiführers statt – dies bedeutet allerdings nicht, dass die Mitglieder automatisch daran beteiligt würden. Im Gegenteil: Die Conservative Party hat sich in Rückbesinnung auf ihre monarchistischen Wurzeln niemals ganz von der Idee der bloßen Ernennung eines Parteiführers als eine Art Vizekönig getrennt. Dieser bedarf folglich keiner formell-demokratischen Legitimation. Konkret sehen die Regularien deshalb zwei Varianten zur Parteiführerwahl vor:
Zunächst ist es möglich, dass bereits im fraktionsinternen Vorverfahren nur ein Kandidat nominiert wird. Dieser alleinige Kandidat wäre damit – ohne jegliche formelle Wahl – Parteiführer.
Daneben könnten so viele Kandidaten nominiert werden, dass diese innerhalb der Fraktion in mehreren Wahlgängen auf zwei Kandidaten reduziert werden müssten. Diese beiden Kandidaten wären schließlich den "einfachen" Parteimitgliedern zur Endauswahl zu präsentieren.
Späterer Parteiführer ist von Unterhausfraktion abhängig
Politisch erfährt diese zweite, mitgliederfreundliche Option in der Rechtspraxis aber eine gewaltige Einschränkung: Der spätere Parteiführer ist hinsichtlich einer Abwahl durch ein Misstrauensvotum und im partei- wie staatspolitischen Tagesgeschäft einzig von der Unterhausfraktion abhängig. Kein Kandidat, der sich nicht bereits bei dem fraktionsinternen Auswahlverfahren der Mehrheit der Abgeordneten sicher ist, könnte jemals politisch reüssieren.
Insofern ist der bei der letzten fraktionsinternen Runde als Zweitplatzierte in die Wahl durch das Parteivolk rutschende Kandidat regelmäßig gut beraten, von der Kandidatur freiwillig zurückzutreten und sich für seinen Verzicht ggf. einen Posten in der Regierung oder der Fraktion zu sichern. Denn selbst eine erfolgreiche Wahl unter höchster Zustimmung bei den Parteimitgliedern wäre im Westminsterpalast politisch nutzlos.
Aus diesem Grunde trat 2003 wie 2016 die letzte Mitkandidatin zurück, um den von den Abgeordneten favorisierten Michael Howard bzw. Theresa May das Feld allein zu überlassen. Zu einer Mitgliederwahl kam es demnach nicht mehr und die Fraktion behielt ihre verfassungspolitische Schlüsselrolle – ganz wie es die britische Souveränitätskonzeption mit der Queen-in-Parliament-Doktrin vorsieht. Nach alledem verwundert es auch nicht, dass es seit 1998 "nur" in etwa der Hälfte der Fälle, in denen ein neuer konservativer Parteiführer gewählt wurde, zur Beteiligung des Parteivolks kam.
Der Ausgang der Wahl im Jahr 2022 ist noch offen. Fest steht jedenfalls, dass es eine weitere Demokratisierung in den Regularien der Conservative Party vorerst nicht geben wird. Die Partei hat namentlich die Erfahrungen, die die Labour Party mit einem von der parteilinken Basis getragenen und von den einfachen Mitgliedern gegen den Willen der Unterhausfraktion direkt gewählten Jeremy Corbyn über mehrere Jahre machte, genau verfolgt.
Wie es in Großbritannien weitergeht
Die Übergangszeit von voraussichtlich nur wenigen Wochen wird Boris Johnson wohl "geschäftsführend" im Amt des Premierministers verbringen können. Für eine längere und andere Zeit als die nicht von politisch weitreichenden Entscheidungen getragene parlamentarische Sommerpause hingegen, könnte die Königin wohl keinen Premierminister ohne eigene parlamentarische Mehrheit dulden. Sie könnte – bzw. müsste aus staatspolitischer Verantwortung heraus und zur Wahrung der Verfassungskonventionen sogar – den dann gewählten Parteiführer unmittelbar zu ihrem Premierminister ernennen.
Die Briten nehmen sich bekanntlich nicht allzu ernst. Es ist für uns Deutsche kaum vorstellbar, wie ein Land ohne kodifizierte Verfassung und ohne Parteiengesetz eine effektive (innerparteiliche) Demokratie haben und sichern kann. Dass dies möglich ist, zeigen die Conservative Party und die Labour Party als staatstragende Parteien eindrucksvoll.
Auf die Frage eines Journalisten, wie die Conservative Party ohne formelle Satzung vor 1998 eigentlich ihre Konflikte löst, wenn Mitglieder weder Schieds- noch staatliche Gerichte anrufen könnten, antwortete der befragte Politiker sinngemäß: "Wir haben nun einmal Familienstreitigkeiten, die man unter sich klärt, dafür bedarf es keiner geschriebenen Rechte."
Im Ergebnis – und das zählt für die Briten mehr als der Prozess dahin – funktioniert ihr Parteiensystem. Ein Beweis dafür kann sein, dass beide großen Parteien in einer gewissen Regelmäßigkeit zwar illustre Figuren wie Boris Johnson hervorbringen, aber auch nicht weniger große Staatsmänner und -frauen als ihre hochregulierten deutschen Pendants – man denke nur an Winston Churchill, Clement Attlee oder Margaret Thatcher.
Dr. Johannes M. Jäger ist als Rechtsanwalt im öffentlichen Recht bei HFK Rechtsanwälte in Frankfurt tätig. Er wurde an der Universität Würzburg mit einer Arbeit zum britischen Verfassungs- und Parteienrecht promoviert.
Neuwahlen nach Johnson-Rücktritt: . In: Legal Tribune Online, 08.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48997 (abgerufen am: 19.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag