Nach einigem Hin und Her hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Triage beschlossen. Dieser schließt zwar die umstrittene Ex-post-Triage aus, nun rückt aber ein alter Streitpunkt wieder in den Blick, berichtet Maximilian Amos.
Am Mittwoch vergangener Woche hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Regelung der Triage beschlossen und damit den ersten Schritt zur Umsetzung der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gemacht. Dieses hatte im Dezember entschieden, dass der Gesetzgeber tätig werden müsse, um Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung im Fall begrenzter medizinischer Kapazitäten zu schützen.
Das BVerfG hatte sich in seiner Entscheidung mit einer Triage-Situation im Rahmen der Corona-Pandemie befasst. Personen mit Behinderungen fürchteten, im Falle einer Überlastung der Intensivstationen zugunsten anderer Patienten benachteiligt zu werden und verlangten vom Gesetzgeber, Regelungen zu treffen, die sie vor Diskriminierung schützten. Das Gericht erkannte in der fehlenden Regelung tatsächlich einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG). Dieses verpflichte nämlich den Gesetzgeber dazu, Regelungen zu treffen, die verhindern, dass Menschen in einer Triage-Situation aufgrund ihrer Behinderung von vorneherein schlechtere Chancen bei der Vergabe von Behandlungsplätzen haben. Aus diesem Grund müsse er "unverzüglich" tätig werden, befand der Senat.
"Unverzüglich" ist in der Rechtswissenschaft ein gebräuchlicher Begriff und meint i.d.R. ein Handeln ohne schuldhaftes Zögern. Ob man dies der Bundesregierung attestieren mag, ist wohl eine müßige Diskussion, fest steht aber, dass es auf dem Weg zum nun beschlossenen Gesetz teilweise turbulent zuging. So wurde Anfang Mai dieses Jahres plötzlich ein Referentenentwurf des federführenden Bundesgesundheitsministeriums öffentlich, in dem nicht nur die Vorgaben des BVerfG umgesetzt, sondern auch die hoch umstrittene Ex-Post-Triage in Gesetzesform gegossen werden sollte. Diese Form der Zuteilungsentscheidung meint, dass die bereits begonnene Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit ggf. besserer Überlebenschance abgebrochen wird. Dies stellt jedoch nach Meinung der meisten Strafrechtler einen strafbaren Totschlag dar. Nachdem viel Kritik am Entwurf aufgebrandet war, zog das Haus schließlich den Entwurf zurück und Minister Karl Lauterbach (SPD) ließ sich zitieren, die Ex-Post-Triage sei "ethisch nicht vertretbar" und man werde sie daher auch nicht erlauben. Der daraufhin nachgebesserte Entwurf geht nun seinen Weg in das Gesetzgebungsverfahren.
Ex-Post-Triage nun explizit verboten
Dieser sieht nun eine Regelung im Infektionsschutzgesetz (IfSG) vor, die für den Fall einer pandemiebedingten Knappheit von intensivmedizinischen Behandlungsplätzen die Grundregeln für deren Zuteilung vorgeben soll. Der neue § 5c IfSG stellt dabei in Absatz 1 zunächst klar, dass im Fall von aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen Behandlungskapazitäten niemand wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung benachteiligt werden darf.
Hiermit wird mehr oder weniger die Entscheidung des BVerfG wiedergegeben, wenngleich die aufgezählten Kriterien über die auf Behinderungen konzentrierte Entscheidung hinausgehen. Die nicht abschließende Aufzählung der unzulässigen Zuteilungskriterien orientiert sich an § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), adressiert aber zusätzlich das Kriterium des Grades der Gebrechlichkeit. Hierunter fällt in der klinischen Praxis etwa die Angewiesenheit auf Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. Zudem werden in der Gesetzesbegründung weitere unzulässige Kriterien genannt, wie die Verweigerung einer Schutzimpfung.
Absatz 2 Satz 4 enthält zudem gegenüber dem ersten veröffentlichten Referentenentwurf nun die Klarstellung, dass bereits zugeteilte Behandlungsplätze nicht neu vergeben werden dürfen. Damit wird die umstrittene Ex-Post-Triage explizit verboten. Eine weitere Erklärung enthält der Gesetzentwurf zu diesem Passus nicht, sondern stellt lediglich klar, dass bereits zugeteilte Behandlungen dann nicht mehr zur Disposition stehen, wenn sie noch indiziert sind und dem Patientenwillen entsprechen.
Mit diesen Vorgaben stellt der Entwurf aber nur klar, was in einer Triage-Situation kein Kriterium sein darf. Für die Praxis, insbesondere für die behandelnden Mediziner, ist jedoch besonders von Bedeutung, wonach stattdessen entschieden werden soll.
Nur die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit zählt
Nachdem die Ex-Post-Triage beerdigt ist, rückt so wieder ein anderer, daneben etwas untergegangener Punkt in den Blick, der zuvor die Triage-Diskussion prägte. Nach Absatz 2 Satz 1 der Norm darf eine Zuteilungsentscheidung "nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden". Diese Formulierung wirkt zunächst unspektakulär, doch sie betrifft einen entscheidenden Punkt, über den in der rechtswissenschaftlichen Literatur zur Triage – die sehr umfangreich ist – seit Langem gestritten wird: Dürfen bei der Entscheidung zwischen der Rettung verschiedener Menschenleben Faktoren wie die verbleibende Lebensdauer oder gar die Lebensqualität eine Rolle spielen? Etwas pointiert: Kann es richtig sein, einem Patienten, der ohnehin todkrank ist, ein paar Tage oder Wochen zu schenken und hierfür einem anderen, der womöglich noch viele Jahre vor sich hätte, die lebensnotwendige Hilfe zu versagen?
Die heute wohl überwiegende Meinung im Schrifttum dürfte lauten: ja. Alles andere wäre demnach ein Verstoß gegen die Lebenswertindifferenz, ein Prinzip, das als Ausdruck der Menschenwürde vorschreibt, dass menschlichen Leben kein unterschiedlicher Wert zugewiesen werden darf. Jedes Leben, gleich wie kurz oder krank, ist demnach "gleich wertvoll" und genießt "ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz" (BVerfGE 115, 118 (152, 158)).
Dies findet auch in der aktuellen Entscheidung des BVerfG Anklänge, die ausdrücklich nur die Erfolgsaussicht im Sinne der Überlebenschance bezüglich der behandelten Erkrankung für zulässig erachtet. Würde dagegen auf eine längerfristig zu erwartende Überlebensdauer abgestellt, so der Erste Senat in seinem Beschluss im Dezember, drohe eine pauschale Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. Es ginge dann gerade nicht um das Überleben der akuten Erkrankung, sondern um die Maximierung von Lebenszeit. Dies ist jedoch nicht nur in Bezug auf die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, sondern ganz allgemein problematisch. Verfassungsrechtlich ebenfalls unzulässig wäre wohl auch die pauschale Bevorzugung von jüngeren vor älteren Patienten oder die Benachteiligung von solchen, die an anderen Krankheiten leiden, die für eine kurze Lebenserwartung sorgen. Dem folgend werden im Entwurf auch Kriterien wie Alter und Gebrechlichkeit als eigene Kriterien ausgeschlossen. Ebenso wie Komorbiditäten dürfen sie nur eine Rolle spielen, sofern sie Auswirkungen auf das Überleben der aktuellen Behandlung haben.
Dies wirft aber auch einige praktische wie auch juristische Fragen auf. Der Einfluss von Alter oder Komorbiditäten, also anderen Krankheiten des Patienten, dürfte sich nicht immer mit Sicherheit klären lassen. In der Regel werden sie aber einigen Einfluss auf die medizinische Prognose des kurzfristigen Überlebens haben, womit die Zuteilung doch wieder ganz erheblich mit dem sonstigen Zustand des Patienten zusammenhängen würde. Der Entwurf hat daher aus dem Schrifttum scharfe Kritik erfahren, weil er eine versteckte Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und schweren Vorerkrankungen, die das BVerfG eigentlich verhindern wollte, per Gesetz festschreibe. Das Kriterium der kurzfristigen Erfolgsaussicht, welches das BVerfG veranschlagt hat, soll nach dieser Auffassung nur in einem streng reduzierten Sinn als bloße Indikation der Intensivbehandlung verstanden werden. Der Entwurf aus dem BMG hingegen versteht es offenbar als Priorisierungsmechanismus zwischen für eine Behandlung geeigneten Patienten.
"Das Kriterium der kurzfristigen Erfolgsaussicht führt zu einer möglichen Diskriminierung von Personen mit Behinderungen, die aufgrund ihrer Grunderkrankungen regelmäßig eine schlechtere Prognose hinsichtlich ihrer Überlebenswahrscheinlichkeit zu erwarten haben. Das Kriterium läuft damit dem ersten Leitsatz der Entscheidung des BVerfG zuwider, nach dem der Staat vor unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung schützen muss" kritisiert Prof. Dr. Scarlett Jansen, Strafrechtlerin von der Uni-Trier, die mehrfach zur Triage publiziert hat, im LTO-Gespräch die Regelung. Zusätzlich liege dem Kriterium auch eine utilitaristische Erwägung zugrunde, die nicht im Einklang mit der Lebenswertindifferenz stehe. "Wenn man ein Kriterium der kurzfristigen Erfolgsaussicht einführen möchte", so Jansen, "wäre das demnach nur im Sinne einer Minimalnutzenschwelle zulässig."
Hinzu kommt, dass schon die Vorgabe, eine medizinische Prüfung der Erfolgsaussicht durchzuführen, bei der aber bestimmte medizinische Kriterien für eine solche Diagnose von Rechts wegen ignoriert werden müssen, in der Praxis kaum umsetzbar sein dürfte. Außerdem stellt sich die Frage, was mit dem kurzfristigen Überleben überhaupt gemeint ist. Dazu erklärt die Bundesregierung in ihrer Gesetzesbegründung, die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit sei kein konkret bestimmter Zeitraum von Stunden, Tagen oder Wochen, sondern beziehe sich auf die Chance, die nach der aktuellen Krankheit angezeigte Intensivtherapie zu überleben. Es geht also im Kern nicht darum, wie lange ein Patient noch lebt, sondern mit welcher Wahrscheinlichkeit er die therapierte Krankheit, etwa Covid-19, überlebt. Verstirbt er vermutlich kurz darauf an einem Krebsleiden, so darf dies eigentlich keine Rolle spielen. In der Praxis dürfte sich die medizinische Erfolgsprognose davon aber kaum trennen lassen.
Die Schwächen des Entwurfs liegen paradoxerweise wohl auch darin begründet, dass er sich zu genau an den Vorgaben des BVerfG orientiert. Denn dieses hatte eben jene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit als zulässiges Kriterium vorgegeben.
Triage-Regeln auf alle Patienten anwendbar - aber nur in Pandemien
Die übrigen Passagen der Norm enthalten im Wesentlichen Vorgaben zum Verfahren. So wird in Absatz 3 ein Vier- bzw. Sechs-Augen-Prinzip statuiert, Absatz 4 enthält eine Dokumentationspflicht und Absatz 5 die Verpflichtung der Krankenhäuser mit intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten, die Zuständigkeiten und Entscheidungsabläufe festzulegen.
Interessant ist noch eine Passage aus der Begründung des Entwurfs: Auf den Seiten 19 und 20 des Entwurfs heißt es, in die Zuteilungsentscheidung seien alle Patientinnen und Patienten einzubeziehen, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen, und zwar unabhängig von ihrer Erkrankung. § 5c IfSG sei daher nicht auf Fälle von Patienten mit übertragbaren Krankheiten wie Covid-19 beschränkt, sondern erfasse auch Fälle, in denen die Zuteilungsentscheidung zwischen Patienten zu treffen sei, die aufgrund anderer Krankheiten einer Intensivbehandlung bedürfen. Prof. Jansen erklärt dazu, es sei zwar löblich, dass nicht nur Personen mit einer Covid-19-Infektion einbezogen werden, sondern alle, die um die Ressourcen konkurrieren. Denn unabhängig von ihrer Krankheit hätten alle Personen gleichermaßen einen Teilhabeanspruch. Doch: "Die Regelung betrifft nur den Fall, dass aufgrund einer Pandemie nicht genügend Behandlungskapazitäten zur Verfügung stehen. Der Gesetzgeber verpasst es damit, die Triage auch für andere Knappheitssituationen zu regeln."
Triage-Gesetz im Kabinett beschlossen: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49510 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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