Das LG Köln hat die religiös motivierte Beschneidung eines Jungen aus einer muslimischen Familie als strafbare Körperverletzung qualifiziert. Das Urteil hat Beifall und scharfe Kritik hervorgerufen. Es bewertet die Rechte der Eltern zu gering und unterschätzt die Bedeutung religiöser Symbole und Riten, kommentiert Thomas Traub.
Während Befürworter das Urteil als wegeweisend loben, sprechen andere, wie der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, von einem "unerhörten und unsensiblen Akt" und einem "beispiellosen und dramatischen Eingriff" in die Rechte der Religionsgemeinschaften. Liest man die Originalentscheidung, bestätigt sich der Eindruck, dass die Strafkammer die Bedeutung der Religionsfreiheit und des Elternrechts nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Dabei ist der Ausgangpunkt der Entscheidung überzeugend: Die Beschneidung eines Jungen erfüllt den objektiven Tatbestand der Körperverletzung – genau wie jeder andere ärztliche Heileingriff auch. Allerdings ist der Eingriff nicht rechtswidrig, wenn der Verletzte beziehungsweise sein gesetzlicher Vertreter seine Einwilligung erklärt hat.
Fest steht auch, dass Eltern keine unbegrenzte Verfügungsmacht über die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder haben. So dürfen sie ihrem Sprössling eine lebensnotwendige Bluttransfusion nicht verweigern, weil sie dies als Zeugen Jehovas traditionell ablehnen. Ebenso muss eine elterliche Zustimmung zur Beschneidung eines Mädchens, die treffender als Genitalverstümmelung bezeichnet wird, rechtlich unwirksam sein. Sie läuft dem Wohl des Kindes offensichtlich zuwider und verstößt gegen die guten Sitten.
Religiöses Erziehungsrecht der Eltern als Grundrecht
Jenseits solcher klaren Fälle darf der verfassungsrechtliche Stellenwert des Elternrechts aber nicht vernachlässigt werden. Nach Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.
Zum Elternrecht gehört die Erziehung, also die Sorge für die seelische und geistige Entwicklung einschließlich der religiösen und weltanschaulichen Erziehung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist diese religiös-weltanschauliche Erziehung untrennbarer Bestandteil der Eltern-Kind-Beziehung, die das Grundgesetz besonders schützt (BVerfG, Beschl. v. 17.12.1975, Az. 1 BvR 63/68).
Das Grundgesetz garantiert daneben die Religionsfreiheit der Eltern. Auch dieses Grundrecht umfasst das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten und von solchen Überzeugungen fernzuhalten, die ihnen falsch oder schädlich erscheinen (BVerfG, Beschl. v. 16.05.1995, Az. 1 BvR 1087/91).
Kein Grundrecht auf Schutz vor religiöser Prägung
Die Idee, das kindliche Gemüt in religiösen Angelegenheiten als "tabula rasa" zu erhalten und möglichst nicht vor der eigenen Religionsmündigkeit zu prägen, damit es dann im späteren Alter frei von weltanschaulicher Beeinflussung durch die Eltern über die eigene Religionszugehörigkeit entscheiden kann, ist dagegen pädagogisch und religionssoziologisch naiv.
Vor diesem Hintergrund überzeugt das Argument des Landgerichts (LG) Köln nicht, die Beschneidung müsse verboten werden, weil sie dem Interesse des Kindes zuwiderläuft, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können. Die negative Religionsfreiheit richtet sich zunächst als Abwehrrecht gegen den Staat und nicht gegen die Eltern.
Mit Vollendung des vierzehnten Lebensjahres kann jeder über seine Religionszugehörigkeit selbst entscheiden. Die Beschneidung von Kindern verletzt dieses Recht nicht. Jeder kann sich selbstverständlich später dafür entscheiden, sich vom Judentum beziehungsweise vom islamischen Glauben loszusagen. Ein unzumutbares äußeres Merkmal einer bestimmten Religionszugehörigkeit ist die Beschneidung schon deshalb nicht, weil sie nicht nur von zwei verschiedenen Weltreligionen, sondern daneben auch aus medizinischen und hygienischen Gründen in großer Zahl praktiziert wird.
Ein Befehl Gottes
Für die religiöse Erziehung im Judentum hat die Beschneidung eine herausragende Bedeutung. Sie wird unmittelbar auf einen Befehl Gottes an Abraham zurückgeführt und als Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk verstanden. Die jüdischen Gläubigen können sich dabei auf eine Textstelle im ersten Buch Mose berufen: "Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen."
Die rituelle Beschneidung der männlichen Säuglinge, die Brit Mila, wird selbst dann am achten Tag nach der Geburt durchgeführt, wenn dieser auf einen Sabbat fällt. Sie wird von Juden seit Jahrtausenden durchgeführt und verbindet orthodoxes und liberales Judentum.
Im Islam ist die religiöse Bedeutung weniger eindeutig nachweisbar. Der Koran gebietet die Beschneidung nicht ausdrücklich. Dennoch wird sie auch von Muslimen in abrahamitischer Tradition seit Jahrhunderten praktiziert. Unabhängig von der exakten theologischen Begründung können sich daher auch muslimische Eltern auf das religiöse Erziehungsrecht beziehungsweise die Religionsfreiheit berufen.
Symbole, Riten und Transzendenz
Auf Außenstehende mag es fremd, ja verstörend wirken, dass Eingriffe in die Genitalien von Kleinkindern als Symbol für einen Gottesbund eine identitätsstiftende Bedeutung haben sollen. Dasselbe wird für andere religiöse Riten oder Vorstellungen gelten. Der christliche Glaube, dass Christus in Brot und Wein des Abendmahls real präsent ist; die muslimische Pflicht, einmal im Leben nach Mekka zur Kaaba zu pilgern; die heiligen Kühe der Hindus – alle diese Phänomene werden für religiös Unmusikalische schwer nachvollziehbar sein.
Doch wer die Bedeutung von Riten, von Symbolen, von Transzendenz unterschätzt, verkennt das Wesen von Religion. Das Grundrecht der Religionsfreiheit ist insofern einmal treffend als "Rationalisierungs-Verbot" bezeichnet worden.
Die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes erkennt diese Bedeutung der Religion und behandelt sie nicht als obskur. Dafür muss man nicht auf Gott in der Präambel verweisen. Neben dem Religionsunterricht gewährleistet die Verfassung religiöse Handlungen in Militär, Krankenhäusern und Strafanstalten und gibt den Religionsgemeinschaften das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten.
Fragwürdige Botschaft eines Beschneidungsverbots
Rechtlich unmittelbar bindend ist die Entscheidung aus Köln für andere Fälle nicht. Dennoch zeugen die Reaktionen von Religionsgemeinschaften und Ärzteverbänden bis hin zum jüdischen Krankenhaus in Berlin von erheblicher Unsicherheit. Rechtssicherheit herzustellen, dazu ist zunächst der Gesetzgeber als "Erstinterpret" der Verfassung gefordert.
Wenn der Deutsche Bundestag die Beschneidung gesetzlich regelt, wird er auch einen Aspekt zu beachten haben, der nur in einer kulturfremden und geschichtsvergessenen Gesellschaft völlig außer Acht gelassen werden könnte: Welche Botschaft würde von einem Gesetz ausgehen, das die Juden in Deutschland, dem "Land der Täter", zu einem "Beschneidungstourismus" zwingen würde, damit sie weiterhin ihren jahrtausendealten Ritus der Beschneidung als Zeichen für den Bund ihres Gottes ausüben können?
Der Autor Thomas Traub ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln.
Thomas Traub, Strafbarkeit ritueller Beschneidungen: . In: Legal Tribune Online, 10.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6578 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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