Nachdem der BGH klargestellt hat, dass die PID nach aktueller Rechtslage nicht verboten ist, wird parteiübergreifend über die Einführung eines gesetzlichen Verbots diskutiert. Seine Befürworter argumentieren mit der verfassungsrechtlich garantierten Menschenwürde. Tatsächlich jedoch ist dieses Gut gar nicht berührt. Von Dr. Michael C.W. Scholtes und Dr. Simon Wollenberg.
Im Streit um die Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik (PID) hat sich die Diskussion mittlerweile von der einfachgesetzlichen Anwendung des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Menschenwürde verlagert. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem vielbeachteten Urteil vom 6. Juli 2010 entschieden, dass das zurzeit geltende EschG das Verfahren nicht verbietet; nun wird diskutiert, ob die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde ein gesetzliches Verbot der PID gebietet.
In dieser sehr kontrovers geführten Diskussion werden indes sowohl der Anwendungsbereich als auch die Auswirkungen der Menschenwürde kaum je präzise bestimmt. Im Gegenteil wird die Argumentation immer diffuser, je vehementer die Menschenwürde ins Feld geführt wird. Und so bleibt die Erkenntnis auf der Strecke: Die Menschenwürde ist bei der PID gar nicht berührt.
Die Entwicklung der Eizelle nach einer künstlichen Befruchtung
Medizinisch ist die PID in verschiedenen Phasen der frühen Entwicklung möglich.
Nach einer erfolgten künstlichen Befruchtung erreicht die befruchtete Eizelle zunächst das Pronukleus-Stadium. Die Samenzelle befindet sich zwar bereits in der Eizelle, die Zellkerne sind jedoch noch nicht verschmolzen. An das Pronukleus-Stadium schließt sich, eine erfolgreiche Weiterkultivierung vorausgesetzt, die Kernverschmelzung zwischen der Eizelle und der Samenzelle an. Hierbei verbinden und reorganisieren sich die zuvor getrennten Chromosomen der Eizelle und der Samenzelle und es entsteht das eigene genetische Programm des Embryos.
Die nächste Entwicklungsstufe beginnt mit der Zellteilung der befruchteten Eizelle. Nach dreimaliger Zellteilung ist das so genannte 8-Zell-Stadium erreicht. Im 8-Zell-Stadium ist erstmals eine PID möglich. Hierbei werden ein oder zwei Zellen (Blastomeren) entnommen und genetisch untersucht. Das Problem hierbei ist, dass die Entnahme von ein oder zwei Blastomeren die Weiterentwicklung der Eizelle stören kann: Nach einer Blastomerenentnahme im 8-Zell-Stadium sinkt die Schwangerschaftsrate erfahrungsgemäß um ca. 25 Prozent.
Auf das 8-Zell-Stadium folgt, ca. fünf Tage nach der Befruchtung, die Bildung einer Blastozyste. Die Blastozyste besteht aus ca. 40 bis 80 Zellen und enthält bereits zwei Elemente: den Embryoblasten, aus dem sich der Embryo entwickeln soll, und den Trophoblasten, der Grundlage für die Einnistung und Plazentabildung darstellt. Bei einer PID in diesem Stadium werden Trophoblasten-Zellen entnommen und untersucht. Der Embryoblast bleibt unberührt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Entnahme von Trophoblasten im Blastozysten-Stadium weniger Risiken birgt als die Entfernung von Blastomeren im 8-Zell-Stadium, so dass dies die aus medizinischer Sicht vorzugswürdige Alternative der PID ist.
Das Blastozystenstadium stellt das höchste embryonale Entwicklungsstadium dar, das man unter Bedingungen außerhalb des Körpers der Patientin erreichen kann. Eine Blastozyste, die nicht in die Gebärmutter der Patientin eingesetzt wird, ist nicht überlebensfähig. Hier endet der Beitrag der künstlichen Befruchtung.
Keine einheitliche Verwendung des Begriffs "Embryo"
Die Frage, ob einer befruchteten Eizelle bis zum Blastozysten-Stadium überhaupt schon Menschenwürde zukommt, wird in der öffentlichen Diskussion schlicht übergangen. Stattdessen wird auf die einfachgesetzliche Definition des Begriffs "Embryo" in § 8 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) zurückgegriffen. Demzufolge gilt als Embryo "die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an".
Bei dieser schematischen Übernahme einer einfachgesetzlichen Definition für eine verfassungsrechtliche Bewertung bleibt außer acht, dass die Definition des ESchG noch nicht einmal für alle deutschen Gesetze gilt. Ein Beispiel hierfür ist § 2 Patentgesetz (PatG). In einem weithin unbeachteten Beschluss vom 17. Dezember 2009 hat der BGH die Anwendung des § 2 PatG ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung folgende Frage vorgelegt: "Was ist unter dem Begriff 'menschliche Embryonen' ... zu verstehen?" (Az. Xa ZR 58/07). Je nach Antwort des EuGH kann dies dazu führen, dass dem PatG eine andere Definition des Begriffes "Embryo" zugrunde zu legen sein wird als dem ESchG.
Ferner beruht die Definition des EschG zwar auf einer seit Jahrzehnten etablierten Ansicht in der verfassungsrechtlichen Literatur; deren Argumente fußen jedoch auf Prämissen, denen längst der Boden entzogen ist.
Argumentative Hilfskonstrukte greifen bei der PID nicht
Grundlage für die Anwendung der Menschenwürde auf befruchtete Eizellen sind das so genannte Potentialitätsargument und das so genannte Kontinuitätsargument. Beide Begründungen laufen bei der PID jedoch ins Leere.
Das Potentialitätsargument besagt, dass allein die befruchteten Eizelle das Potential besitzt, sich zu einem vollständigen Menschen zu entwickeln. Diese singuläre Eigenschaft der "Totipotenz", die die befruchtete Eizelle bei Inkrafttreten des ESchG 1990 noch aus dem Kreis aller anderen menschlichen Zellen hervorgehoben hat, ist jedoch inzwischen überholt. Inzwischen ist es nämlich möglich, adulte Zellen durch Reprogrammierung in ein früheres Entwicklungsstadium zurückzuversetzen. Damit ist die Totipotenz eine künstlich herstellbare Zelleigenschaft. Das Potentialitätsargument versagt.
Das zweite Argument, das der Kontinuität, ist bei genauerer Betrachtung bereits durch das Verfahren der künstlichen Befruchtung obsolet: Seine Vertreter stellen darauf ab, dass mit der Kernverschmelzung ein Prozess in Gang gesetzt wird, in dem die befruchtete Eizelle in einer "kontinuierlichen Entwicklung" zum ausgewachsenen Menschen heranreift. Zwar ist allgemein anerkannt, dass erst die Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter das genetisch gesteuerte Entwicklungsprogramm zur Entfaltung bringt; dieser Schritt wird jedoch "jedenfalls bei der natürlichen Zeugung" (sic!) als Teil der kontinuierlichen Entwicklung gesehen.
Bei der künstlichen Befruchtung setzt die Einnistung der befruchteten Eizelle jedoch erst noch einen weiteren künstlichen Eingriff voraus, nämlich das operative Einsetzen der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. Alle argumentativen Hilfskonstrukte, mit denen diese Unterbrechung der "kontinuierlichen Entwicklung" überbrückt werden sollte, haben letztlich eines gezeigt: Solange sich die befruchtete Eizelle nicht in der Gebärmutter befindet, verfängt auch das Kontinuitätsargument nicht.
Schließlich versagt das Kontinuitätsargument der "zum Menschen führenden" (sic!) Entwicklungstypik selbst seinen Befürwortern zufolge vollends bei einem klonierten Embryo. Deshalb soll dort der Schutz der Menschenwürde erst zu einem späteren Zeitpunkt gelten – nämlich nach der Einnistung im Mutterleib.
Kampf gegen die Entzauberung des Beginns menschlichen Lebens
Damit offenbart eine genaue Betrachtung der verfassungsrechtlichen Lage die Erkenntnis, dass die Menschenwürde auf eine befruchtete Eizelle vor dem Einsetzen in die Gebärmutter gar nicht sinnvoll anwendbar ist.
Dies schlägt sich im Übrigen auch in den Angriffen der Gegner der PID nieder: Sie beziehen sich kaum je auf die einzelne Blastozyste, deren Menschenwürde angeblich in Rede steht. Stattdessen werden "Designer-Babys" ins Feld geführt, die tatsächlich mit der PID gar nicht erzeugt werden können, eine Diskriminierung behinderter Menschen behauptet, zu denen eine befruchtete Eizelle in vitro gar nicht gehört, und, als zynischer Höhepunkt, der natürliche Wunsch nach einem Kind ohne schwere genetische Schäden als eugenische "Selektion" diffamiert.
Mit dem Würdeanspruch einer Blastozyste hat all dies nichts zu tun. Vielmehr äußert sich im Kampf gegen die PID der Widerstand gegen die Entzauberung eines der letzten Mysterien dieser Welt: des Beginns menschlichen Lebens. Dies erklärt auch, warum die PID derart erbitterten Angriffen ausgesetzt ist, obwohl die viel schwerwiegendere Abtreibung eines entwickelten Fötus bei gleichem Befund längst allgemein akzeptiert ist.
Es wäre der Menschenwürde weit mehr gedient, wenn wir aufhören würden, auf dem Rücken der Kinderwunschpatientin Stellvertreterkriege um das Für und Wider der Aufklärung zu führen und sie bei dem unterstützen würden, was wir ihr alle wünschen: einfach nur ein gesundes Kind.
Dr. Michael C.W. Scholtes, Ph.D., ist Leiter der IVF-Gruppe des Kinderwunschzentrums Düsseldorf. Dr. iur. Simon Wollenberg ist Rechtsanwalt bei der Kanzlei Hecker Werner Himmelreich.
Michael C.W. Scholtes und Simon Wollenberg, Präimplantationsdiagnostik: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2302 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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