Seit Kurzem dürfen die Medienanstalten gegen Sorgfaltsverstöße von Online-Medien vorgehen. Sowohl die Rechtsgrundlage als auch ihre Anwendung werfen verfassungsrechtliche Fragen auf, wie Frederik Ferreau zeigt.
Vor einigen Tagen erhielten elf Online-Medienportale Post von den Landesmedienanstalten. In "Hinweisschreiben" wurden die Betreiber auf Ungenauigkeiten in ihrer Berichterstattung aufmerksam gemacht. Es dürfte sich nur um den Auftakt für weitere Postsendungen handeln; denn die Medienanstalten haben Mitte Februar angekündigt, im Wahljahr 2021 verstärkt gegen Desinformation im Netz vorgehen zu wollen.
Anlass dazu gibt § 19 Abs. 1 des neuen Medienstaatsvertrags (MStV): Danach müssen journalistisch-redaktionelle Telemedien den anerkannten Grundsätzen journalistischer Sorgfalt genügen und Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit prüfen. Bislang galten diese Vorgaben nur für Online-Ableger traditioneller Print-Medien und nicht für "online only"-Angebote.
Eine Aufsicht über die Online-Presse existierte zudem nicht. Der Gesetzgeber vertraute auf die freiwillige Selbstkontrolle der Branche durch den Deutschen Presserat. Seine Mitglieder unterliegen dem Pressekodex und sind verpflichtet, ihnen erteilte Rügen zu veröffentlichen. Allerdings hat der Medienjournalist Stefan Niggemeier recherchiert, dass gerügte Mitglieder ihrer Veröffentlichungspflicht nicht immer nachkommen, ohne dass der Presserat die Weigerung sanktioniere oder wenigstens öffentlich bekanntmache.
Dreistufige Aufsicht – die sich im laufenden Betrieb bewehren muss
Der seit dem 7.11.2020 geltende MStV ändert die bisherige Rechtslage in zwei wesentlichen Punkten: Erstens erweitert er den Adressatenkreis der journalistischen Sorgfaltspflichten, denn diese gelten gemäß § 19 Abs. 1 S. 2 MStV nun zusätzlich für "geschäftsmäßig angebotene, journalistisch-redaktionell gestaltete Telemedien, in denen regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen enthalten sind". Vom umfassenden Online-Magazin bis zum professionellen Blog einer Einzelperson sind alle Angebote in die Pflicht genommen, die dauerhaft erbracht werden und sich über den Markt durch Werbung oder Abos refinanzieren.
Die zweite Neuerung betrifft die Aufsicht. Der Gesetzgeber diagnostizierte hier eine Lücke, da online only-Medien zumeist keiner Selbstkontrolleinrichtung angehörten. Zu ihrer Schließung hat er nun ein dreistufiges System geschaffen, das vorrangig auf freiwillige Selbstkontrolle und subsidiär auf eine Aufsicht durch die staatsfern organisierten Medienanstalten setzt:
- Auf der ersten Stufe befinden sich die Angebote, die dem Presserat angehören. Für sie bleibt alles beim Alten.
- Auf der zweiten Stufe liegen Angebote, die sich einer neuen, von den Medienanstalten anerkannten Selbstkontrolleinrichtung anschließen. Voraussetzung für die Anerkennung ist gemäß § 19 Abs. 4 MStV unter anderem die Unabhängigkeit und Sachkunde der Prüferinnen und Prüfer sowie die Einrichtung einer Beschwerdestelle. Im Einzelfall können die Medienanstalten gemäß § 19 Abs. 8 MStV Entscheidungen einer Einrichtung beanstanden, sofern sie die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreitet.
- Angebote, die keiner Selbstkontrolleinrichtungen angehören, unterliegen der unmittelbaren Aufsicht durch die Medienanstalten.
Diese Regelungen tauchten erst in der finalen Fassung des MStV auf. Eine kritische Vorabreflexion durch öffentliche Konsultationen fand nicht mehr statt, sodass ihre Schwächen nun im laufenden Betrieb behoben werden müssen.
"Bekannte und bewährte" Selbstregulierung?
Ins Auge sticht zuerst die unterschiedliche Behandlung der Selbstkontrolleinrichtungen: Während für den Presserat keinerlei Vorgaben gelten, müssen sich andere Selbstkontrolleinrichtungen vorab zertifizieren lassen und unterliegen einer fortwährenden Überwachung. Offenbar erachtet der Gesetzgeber die bisherige Tätigkeit des Presserates als "bekannt und bewährt" genug, um ihr eine Vorzugsbehandlung zu gewähren.
Ob er damit aber ein sachgerechtes Differenzierungskriterium gewählt hat, ist angesichts der Kritik an der Praxis des Presserats zweifelhaft. Und so könnte die Vorschrift gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verstoßen. Verfassungsrechtlich sicheres Terrain hätte der Gesetzgeber nur betreten, wenn er einheitliche Kriterien für sämtliche Selbstkontrolleinrichtungen aufgestellt hätte.
Brisant ist auch die Einschaltung der Medienanstalten als Aufsichtsbehörde, schließlich hat sich die Presse in der Vergangenheit immer erfolgreich gegen die Errichtung externer Aufsichtsinstanzen gewehrt: In den 1950er Jahren bekämpfte sie den Gesetzesvorstoß zur Gründung berufsständischer Zwangskörperschaften mit weitreichenden Befugnissen und schloss sich stattdessen freiwillig im Presserat zusammen.
Indes ist die Frage der Zulässigkeit einer externen Presseaufsicht noch nicht abschließend geklärt: Während das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für den Rundfunk eine staatsferne Aufsicht sogar einfordert, hat es für die Presse bislang weder eine solche Aufsicht verlangt noch ihre Einführung explizit für verfassungswidrig erklärt. Sicher ist nur, dass eine staatliche Aufsicht mit der Pressefreiheit unvereinbar wäre, was sich in der "Polizeirechtsfestigkeit" der Pressetätigkeit ausdrückt. Eine staatsferne Presseaufsicht dürfte dagegen nicht per se ausgeschlossen sein.
Sorgfaltspflichten und sorgfältiger Normgebrauch
Die verfassungsrechtlichen Probleme liegen folglich weniger beim "ob", sondern vielmehr beim "wie" der Beaufsichtigung durch die Medienanstalten:
Auf der Tatbestandsebene des § 19 Abs. 1 MStV müssen hochgradig unbestimmte Rechtsbegriffe wie "anerkannte journalistische Grundsätze" oder "nach den Umständen gebotene Sorgfalt" operationalisiert werden. Die Anstalten sollen sich dabei an den Standards des Pressekodex orientieren. Zusätzlich können sie auf die Maßstäbe zurückgreifen, welche die Zivilgerichte zur Prüfung von Unterlassungs- oder Gegendarstellungsansprüchen gegen Medienanbieter entwickelt haben. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass diese Maßstäbe zum Schutz der Betroffenen einer Berichterstattung Betroffenen entwickelt worden sind – und nicht zur Überprüfung politisch oder gesellschaftlich relevanter Meldungen.
Fehlt es an einer individuellen Betroffenheit und zielt eine Aufsichtsmaßnahme auf den Schutz des allgemeinen Meinungsbildungsprozesses ab, sollten diese Maßstäbe sehr zurückhaltend angewendet werden. Schließlich soll der Prozess der Meinungsbildung durch Rede und Gegenrede eine allgemeine und fortlaufend überprüf- wie wandelbare Auffassung von Wahrheit und Richtigkeit erzeugen. Nur unzweifelhaft erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen, welche das BVerfG bereits aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausklammert, können daher als Verstoß gewertet werden.
Stellt eine Medienanstalt einen Verstoß fest, eröffnet ihr § 109 Abs. 1 MStV auf den ersten Blick ein umfangreiches Rechtsfolgenarsenal. Neben einer Beanstandung ist demnach auch die Untersagung oder sogar die Sperrung eines Angebots möglich. Dadurch mutierte allerdings die punktuelle Inhalteregulierung leicht zu einer umfassenden Anbieterregulierung, die schlimmstenfalls den weiteren Grundrechtsgebrauch vereiteln könnte.
Um die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in die Pressefreiheit zu wahren, ist das Auswahlermessen der Medienanstalten beträchtlich reduziert: Zulässige Rechtsfolge dürfte in aller Regel nur die Beanstandung sein.
Post für die Gerichte?
Was die "Hinweisschreiben" betrifft, so weisen die Medienanstalten darin offenbar auf mögliche Verstöße hin, ohne sogleich ein Verwaltungsverfahren einzuleiten. Das ist in der Anfangsphase ein begrüßenswertes, weil grundrechtsschonenderes Vorgehen. Bedenklich werden solche Schreiben aber, sollten darin geringfügige Mängel der Online-Portale thematisiert werden, die gar nicht das Potential einer Tatbestandserfüllung besitzen: Dann überdehnte die Aufsicht ihre Befugnisse und könnte schlimmstenfalls "chilling effects" in Form einer Einschüchterung der Anbieter hervorrufen. Im sensiblen Spannungsfeld zwischen Medien und Medienaufsicht gilt es, solche Effekte unbedingt zu vermeiden.
Mit § 19 MStV hat der Gesetzgeber die Medienanstalten, die Selbstkontrolleinrichtungen und nicht zuletzt zahlreiche Online-Portale vor enorme Herausforderungen gestellt. Es sollte niemand überrascht sein, falls die Vorschrift künftig auch den Verwaltungsgerichten – oder sogar dem BVerfG – Post bescherte.
Dr. Frederik Ferreau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität zu Köln. Er befasst sich insbesondere mit Fragen der Regulierung digitaler Medien.
Neue Regeln für Online-Medien: . In: Legal Tribune Online, 25.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44354 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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