Während in Berlin über die Ausnahmen vom Mindestlohn und deren Vereinbarkeit mit der Verfassung gestritten wird, hält Mattias G. Fischer das gesamte Vorhaben für verfassungswidrig. Die Regierungskoalition gebe vor, die Tarifautonomie stärken zu wollen, tatsächlich schwäche sie diese nicht nur, sondern greife ohne ausreichende Rechtfertigung in das Grundrecht ein.
Am Donnerstag hat der Bundestag in erster Lesung über den Regierungsentwurf eines Mindestlohngesetzes beraten, der darauf abzielt, ab dem 1. Januar 2015 einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto pro Stunde einzuführen. Ab dem Jahr 2017 soll eine Kommission gemeinsam mit der Bundesregierung den Mindestlohn jährlich anpassen.
Der Gesetzentwurf, mit dem eine entsprechende Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD umgesetzt werden soll, ist das Herzstück eines Artikelgesetzes, das den wohlklingenden Namen "Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie" trägt. Doch die behauptete Stärkung der Tarifautonomie entpuppt sich in Wahrheit als deren Schwächung. Sollte das Gesetz tatsächlich in Kraft treten, verstößt es gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG), das auch die Tarifautonomie umfasst.
Mindestlohngesetz schwächt Tarifautonomie
Die Tarifautonomie ermöglicht Gewerkschaften und Arbeitgebern bzw. deren Verbänden, Tarifverträge frei von staatlichem Einfluss auszuhandeln und abzuschließen. Das Grundgesetz geht davon aus, dass die Festsetzung der Löhne "aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann, weil sie nach den Vorstellungen des Verfassungsgebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausgleich bringen als der Staat" – so das Bundesverfassungsgericht (Urt. v. 27.04.1999, Az. 1 BvR 2203/93, 897/95).
Ein gesetzlicher Mindestlohn, der abweichende tarifvertragliche Regelungen beseitigt, greift in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ein; er trifft den Nerv der Tarifautonomie. Es zeugt also von einiger Chuzpe, wenn die Gesetzesbegründung das Ziel vorgibt, "die Tarifautonomie zu stärken". Selbst Befürworter gesetzlicher Mindestlöhne weisen auf die Gefahr hin, dass die damit einhergehende "Politisierung der Mindestentgeltfestsetzung […] den Legitimationsvorteil der dezentral-verbandlichen, prozedual-autonomen Aushandlung der Mindestlöhne zerstört" – so etwa der emeritierte Arbeitsrechtsprofessor Thomas Blanke aus Oldenburg.
Angemessene Löhne erstrebenswert, aber nicht verfassungsrechtlich geschützt
Die Koalitionsfreiheit wird nach ihrem Wortlaut vorbehaltlos gewährleistet. Dennoch können Eingriffe in die Tarifautonomie gerechtfertigt sein – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) allerdings nur zum Schutz von kollidierenden Grundrechten Dritter oder zur Wahrung anderer konkret umrissener Verfassungsgüter (verfassungsimmanente Grundrechtsschranken).
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es, der gesetzliche Mindestlohn solle "verhindern, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Arbeitsentgelten beschäftigt werden, die jedenfalls unangemessen sind und den in Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden elementaren Gerechtigkeitsforderungen nicht genügen". Selbstverständlich sind angemessene Löhne erstrebenswert, nur: Verfassungsrang kommt diesem Ziel nicht zu. Im Unterschied zu den Verfassungen einiger Bundesländer werden Arbeitsentgelte im Grundgesetz nicht thematisiert.
Auch bloße Verweise auf die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit oder auf Art. 20 Abs. 1 GG – insoweit dürfte das dort verankerte Sozialstaatsprinzip gemeint sein – taugen nicht als Eingriffsrechtfertigung. Das Sozialstaatsprinzip kann aufgrund seiner Vagheit grundrechtsbegrenzend nur in Verbindung mit anderen kollidierenden Grundrechten wirken; anderenfalls wären Grundrechtseingriffe billig zu haben. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist zwar ein Grundrecht, hier aber nicht einschlägig, lassen sich aus ihr doch konkrete finanzielle Leistungsverpflichtungen des Staates kaum herleiten.
8,50 Euro Mindestlohn ist mehr als das Existenzminimum
Dennoch schließt das Grundgesetz die Normierung eines gesetzlichen Mindestlohns nicht aus. So wäre es durchaus denkbar, den mit staatlichen Lohnregelungen einhergehenden Eingriff in die Tarifautonomie mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zu rechtfertigen. Allerdings wäre der Gesetzgeber dann bei der Festsetzung der konkreten Höhe des Mindestlohns keineswegs frei. Denn der Handlungsspielraum des Staates kann von vornherein nur so weit reichen wie die Menschenwürdegarantie selbst.
Das BVerfG hat etwa in seiner Entscheidung zu den Hartz-IV-Sätzen betont, dass der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende Anspruch auf Gewährleistung eines Existenzminimums nur die zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlichen Mittel umfasst (Urt. v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09). In der Praxis bedeutete dies letztlich, dass sich die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns mehr oder weniger an der Höhe der ihrerseits verfassungskonform auszugestaltenden sozialrechtlichen Fürsorgeleistungen für Alleinstehende orientieren muss.
Zwar erstreckt sich die Menschenwürdegarantie auch auf die Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Aber ein Mindestlohngesetz, das – wie in dem Entwurf der Bundesregierung vorgesehen – darüber hinaus auch eine "angemessene" Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleisten soll und einer Mindestlohnkommission zukünftig eine freie, jedenfalls gesetzlich ungebundene Entscheidung über sozialpolitisch wünschenswerte Mindeststandards ermöglichen will, findet im Grundgesetz keine Stütze.
Der Autor Dr. Mattias G. Fischer ist Referent im Niedersächsischen Innenministerium. Er ist zudem Lehrbeauftragter an der Universität Erfurt für Arbeits- und Sozialrecht.
Mindestlohngesetz: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12202 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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