Der Staatsanwalt habe ein totes Pferd geritten, meinen die Anwälte des Altbundespräsidenten. Andere sprechen sogar von einer unanständigen und parteiischen Strafverfolgung. Tatsächlich hat sich die Staatsanwaltschaft in einem Dilemma befunden, aus dem sie den richtigen Ausweg gewählt hat, meint Michael Kubiciel. Das Verfahren könnte fortgesetzt werden.
In ihrem Roman "Glücklich die Glücklichen" beschreibt Yasmina Reza, wie fragil das arrivierte Leben der gehobenen Mittelschicht sein kann. Trivial sind oft die Anlässe, die dazu führen, dass die feinen, kaum sichtbaren Bruchlinien der Existenz plötzlich aufreißen. Vom Leben, wie man es kannte, bleibt dann im schlimmsten Fall nichts mehr übrig.
Suchte Reza, die bereits Nicolas Sarkozy eindringlich portraitiert hat, nach einem neuen Sujet, in dem Fall Christian Wulff würde sie fündig werden: Ein Kredit für einen Bungalow, Einladungen zu Reisen sowie die in Michael Götschenbergs Buch "Der böse Wulff" nachgezeichneten Spannungen zwischen dem Bundespräsidenten und der Bildzeitung waren es, die über Christian Wulff einen heftigen Sturm auslösten. Dieser dauerte zwar nur wenige Wochen, doch fegte er Wulff aus Amt und Haus. Um Haaresbreite hätte der Oktoberfestbesuch den Mann sogar noch den letzten Rest seiner Bürgerlichkeit gekostet: den Status eines zwar jungen, aber immerhin nicht vorbestraften Altbundespräsidenten.
LG: Kein Zusammenhang zwischen Vorteilsgewährung und Dienstausübung
Diese Gefahr ist vorerst abgewehrt. Nach der Beweisaufnahme sah sich das Landgericht (LG) Hannover außer Stande, das vom Tatbestand der Vorteilsannahme verlangte Äquivalenzverhältnis zwischen einer Vorteilsgewährung und der Diensthandlung festzustellen (Urt. v. 27.02.2014, Az. 40 KLs 6/13). Zweifelhaft sei bereits, ob sämtliche Einladungen überhaupt einen Vorteil im Sinne des § 331 Strafgesetzbuch (StGB) darstellten. Demgegenüber sah die Staatsanwaltschaft die Vorteilsgewährung in der Übernahme diverser Hotel-, Kinderbetreuungs- und Bewirtungskosten anlässlich eines Oktoberfestbesuches durch den mitangeklagten und ebenfalls am Donnerstag freigesprochenen Filmproduzenten David Groenewold. Die tatbestandsmäßige Diensthandlung soll ein Schreiben an den Vorstandsvorsitzenden von Siemens gewesen sein, in dem der damalige niedersächsische Ministerpräsident Wulff um die (finanzielle) Unterstützung eines Filmprojekts Groenewolds warb.
Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, hält dies für das Ergebnis einer "unanständigen, parteiischen" Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft. Prantl trifft damit ein verbreitetes Gefühl in der Bevölkerung: Es sei nicht nachvollziehbar, liest und hört man inzwischen häufig, dass sich ein Ministerpräsident für 753 Euro kaufen lasse. Auch sei es ineffizient, dass eine Staatsanwaltschaft ein aufwändiges Verfahren wegen einer derartigen Petitesse führe.
Das LG Hannover war anderer Auffassung. Mit der Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens gab das Gericht zu erkennen, es halte den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen der Einladung zum Oktoberfest und dem Verfassen des Schreibens für hinreichend wahrscheinlich. Diese Überzeugung gab das Gericht indes nach kurzer Zeit auf. Es änderte noch während der Beweisaufnahme derart rapide und deutlich die Meinung, dass die Süddeutsche Zeitung bereits mutmaßt, das Gericht habe nach Vernehmung der prominenten Zeugen schlicht die Lust an der weiteren Verhandlung verloren. Geht der politische Skandal, in dem Christian Wulff die Täterrolle einnimmt, also mit einem Justizskandal einher, in dem der Altbundespräsident das Opfer ist?
Akribie der Ermittlungen war wichtig
Dem ist nicht so. Das Rechtssystem hat richtig reagiert. Die Staatsanwaltschaft war dazu verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, und hat dieses mit jener Akribie betrieben, die sie bei einem derart prominenten Verfahren an den Tag legen musste, will sie sich nicht dem Verdacht der Privilegierung von Politikern aussetzen. Das ebenfalls in Hannover angesiedelte Ermittlungsverfahren gegen Sebastian Edathy zeigt jedenfalls sehr schön, wie schnell Bevölkerung, Medien und Politik den Vorwurf erheben, die Ermittlungsbehörden arbeiteten nicht schnell und nicht gründlich genug.
So gesehen, stehen Staatsanwaltschaften in derartigen Verfahren vor dem Dilemma, dass es von der Meinungs- und Großwetterlage abhängt, ob die Kommentatoren ihre Arbeit für zu streng oder zu nachsichtig erachten. Aus diesem Dilemma kann sich eine Staatsanwaltschaft ebenso wenig befreien, wie Politiker der besonderen Aufmerksamkeit entkommen können, die ihnen Medien und Bevölkerung während eines Ermittlungsverfahrens schenken.
Angeklagter und Staatsanwaltschaft können sich nur an das Recht halten, das derart aufgeheizte Fällen versachlicht. So geben Rechtsnormen gerade bei einem vagen Begriff wie Korruption, von dem gegenüber Politikern ausgiebig Gebrauch gemacht wird, Orientierung und helfen, den Fall zu bewerten: Rechtsnormen sagen dem Politiker, ob er einen ihm angebotenen Vorteil annehmen darf, und erlauben Staatsanwaltschaft und Gericht, die Entscheidung des Politikers zu überprüfen.
Auch die Anklage war richtig
Dabei sind die Strafvorschriften zwar enger und präziser als die ungeschriebenen Regeln des politischen Anstands. Doch sind auch Straftatbestände auslegungsbedürftig. Es ist eine Interpretationsfrage, ob die Einladung zum Oktoberfest ein strafbarer Vorteil für eine Diensthandlung oder lediglich ein Freundschaftsdienst ist, für die allenfalls eine Gegeneinladung erwartet wird, nicht aber ein dienstliches Handeln. Derartige Auslegungsfragen sind gerade in "politischen" Verfahren an einem Ort zu entscheiden, der die größtmögliche Transparenz verspricht: dem Gerichtssaal. Daher war sowohl die Erhebung als auch die Zulassung der Anklage richtig und allemal der bessere Weg als ein Deal oder die Einstellung unter Auflagen.
Inwieweit ein Strafverfahren zur Versachlichung der Vorwürfe führen kann, hängt aber von Art und Umfang der Informationen ab, die in diese Verfahren eingespeist werden. Die Staatsanwaltschaft durfte dem Gericht nicht alle Informationen präsentieren, mit denen sie belegen wollte, dass sich Wulff für die Einladung nach München mit dem damals reichlich vorhandenen politischen Kapital revanchieren wollte. So fernliegend, wie Gericht und Kommentatoren meinen, ist dieser Verdacht nicht: Auch in einer "tiefen Freundschaft" (Groenewold-Verteidiger) können finanzielle und politisch-wirtschaftliche Gefälligkeiten ausgetauscht werden. Kommt dies häufiger vor, entsteht eben jener Verdacht der Käuflichkeit, dem § 331 StGB entgegen treten will. Dass der einzelne Vorteil nur von einem vergleichsweise geringen Wert, eben jenen 750 Euro war, ändert daran nichts. Gerade deshalb war es notwendig, dass die Staatsanwaltschaft den Oktoberfestbesuch mitsamt seiner Vorgeschichte umfassend aufzuklären versucht hat.
Die Ablehnung der Beweisanträge durch das Gericht war hingegen zumindest unklug. Denn damit setzen sich die Richter dem Vorwurf aus, sie hätten schlicht "keine Lust" mehr gehabt, das Verfahren weiterzuführen, und so verhindert, dass sich die Beweislage zu Ungunsten von Wulff verändert. Ob sich dieser Vorwurf in einen Revisionsgrund verwandeln lässt, müssen nun die Staatsanwälte prüfen. Das Verfahren könnte also fortgesetzt werden und der Rechtsfrieden noch auf sich warten. Währenddessen haben große Teile der Bevölkerung ihren Frieden mit dem Altbundespräsidenten längst gemacht.
Der Autor Professor Dr. Michael Kubiciel ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafrechtstheorie und Strafrechtsvergleichung an der Universität zu Köln. Er berät die EU in Antikorruptionsfragen, gibt hier aber ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Freispruch für Ex-Bundespräsident Wulff: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11191 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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