ChatGPT & Co. krempeln den Rechtsmarkt um, während die Justiz weiter Schriftsätze ausdruckt. Auf dem Legal Tech Day sprach LTO mit Philipp Plog vom Legal Tech Verband über Reformbedarf und die Umwälzung der Rechtsbranche durch KI.
Herr Plog, in Legal Tech Verband sind lauter Unternehmen und Kanzleien, die darauf hoffen, mit einer Innovation ganz groß rauszukommen, also letztlich Konkurrenten. Wie sehr gibt es da überhaupt einen freien und ehrlichen Austausch über Entwicklungen?
Wir sind ein Verband, der sich einem Thema verschrieben hat: Spielraum für neue Geschäftsmodelle im Rechtsbereich zu schaffen. Und das ist für Gründer im Legal Tech-Bereich genauso relevant wie für Kanzleien, Rechtsschutzversicherer, Softwareunternehmen und Verlage. Und deswegen haben die Leute den Eindruck, dass sie hier Erkenntnisse erlangen, die sie in Strukturen, wo nur Anwälte unterwegs sind, nicht bekommen.
Und die Konkurrenzsituation?
Klar sind das oft Konkurrenten und dadurch gibt es ein Spannungsverhältnis. Das ist aber absolut produktiv. In anderen Branchen außerhalb des Rechts ist es viel selbstverständlicher, dass man herausfindet, wo die anderen stehen und worüber sie nachdenken, ohne dass sie gleich den Kern ihrer Geschäftsgeheimnisse preisgeben. Das ist aus meiner Sicht auch der Geist, der zum Beispiel das Silicon Valley auszeichnet: dass offener gesprochen wird. Man gibt ein bisschen mehr weg, aber man bekommt auch ein bisschen mehr zurück.
Das erste Thema auf der Tagung war die Digitalisierung der Justiz. Sie haben auf dem Panel davon gesprochen, dass die Politik das Thema zu vorsichtig angehe. Was ist Ihrer Meinung nach denn der große Wurf, der kommen müsste?
Der große Wurf wäre zum Beispiel im Zivilrecht, den Zivilprozess neu und digital zu denken. Das passiert momentan noch nicht, sondern es werden vereinzelte Elemente des herkömmlichen Verfahrens digital ermöglicht, und das häufig auch auch nur als zweitbeste Lösung (zum Beispiel bei Videoverhandlungen). Weitere Ideen sind, ausgewählte Rechtsbereiche, etwa kleine zivilrechtliche Zahlungsforderungen, im Verfahren radikal zu vereinfachen und nur noch digital abzuwickeln; über Streitschlichtungsmechanismen nachzudenken, die nicht in gerichtliche Entscheidungen münden, sondern vorher moderiert und einvernehmlich gelöst werden; und eine digitale Oberfläche zu schaffen, auf der sich alle Akteure des Zivilprozesses begegenen (statt getrennte Systeme wie beA, besonderes Notarfach, elektronsiche Akte etc. nebeneinander zu führen). Solche Ideen wurden in Ländern wie Kanada, Grossbritannien und Österreich bereits vor Jahren umgesetzt.
Was würde das für die Zivilprozessordnung konkret bedeuten? Verhandlungen können doch inzwischen auch digital geführt werden. Was müsste man also noch groß verändern?
Die aktuellen Reformansätze gehen noch vom analogen Prozess aus und sind so nur eine kleine Weiterentwicklung. Trotz der Möglichkeit einer digitalen Verhandlung soll zum Beispiel eine analoge Verhandlung nach dem Kabinettsentwurf immer noch einseitig und ohne prozessuale Hürden erzwungen werden können. Ein anderes Beispiel ist das Leitentscheidungsverfahren, bei dem der Bundesgerichtshof Linien der Rechtsprechung definieren können soll, auch wenn eine Revision zurückgenommen wird. Auch dieser Kabinettsentwurf setzt die Zustimmung beider Parteien voraus und wir wissen, dass Prozessparteien ein Interesse daran haben können, die Klärung einer Rechtsfrage vor dem Bundesgerichtshof hinauszuzögern.
Ein drittes Beispiel ist die neue Verbandsklage. Aus meiner Sicht ist das ein mutloser Kompromiss. Die Koalition will kollektiven Rechtsschutz, der Verfahren enorm vereinfachen kann, so weit wie möglich vermeiden. Sie hat sich deswegen für ein Instrument entschieden, was nur Verbänden und quasi-öffentlichen Institutionen die besondere Möglichkeit verschafft, Massenklagen prozessual auf den Weg zu bringen, prozessual aber weder Anwälten noch innovativen Legal Tech Unternehmen hilft. Wer sich aber für Individualrechtsschutz entscheidet, muss sich über massenhafte Einzelverfahren nicht wundern.
Was haben denn die Verbandsklagen mit Ihrem Thema "Legal Tech" und Digitalisierung zu tun?
Es geht darum, die Prozesse zu vereinfachen und die Belastung der Gerichte zu verringern. Und die neue Verbandsklage löst dieses Problem nicht. Die Organisationen, die nach diesem Gesetz Klagen bündeln können, wie etwa Verbraucherverbände, sind häufig nicht in der Lage, solche großen Verfahren zu akquirieren, zu organisieren und abzuwickeln. Das war im Diesel-Fall anders, weil so viel Aufmerksamkeit bestand, dass sich der Fall quasi von allein akquiriert hat, aber das wird man in vielen anderen Massenverfahren nicht hinbekommen. Und die gesetzliche Konstruktion verkennt, dass im Markt andere Modelle existieren, die durchaus erfolgreich sind. Zum Beispiel Abtretungs- oder Factoring-Modelle auf Provisionsbasis, bei denen kommerzielle Anbieter Claims einsammeln und durchsetzen. Der Ansatz der Koalition verkennt auch die Bedeutung, die Prozessfinanzierung im deutschen Markt heute hat, weil sie Kräfteverhältnisse ausgleichen und Verhandlungsspielraum schaffen kann.
Wie wichtig ist denn eigentlich die Digitalisierung der Justiz für die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich. Kann es denen oder auch Rechtsanwälten nicht egal sein, ob die anwaltlichen Schriftsätze von der Justiz jetzt ausgedruckt oder eben digital bearbeitet werden?
Es gibt ein gesellschaftliches Interesse daran, dass Konflikte gelöst werden und dass die staatlichen Gerichte die relevanten Konfliktlösungsinstanzen bleiben. Genau das wird gefährdet, wenn die Justiz nicht mit der Zeit gehen kann. Im Moment sehen wir, dass die Inanspruchnahme der Gerichte massiv zurückgeht. Innerhalb von fünfzehn Jahren ist die Anzahl der Eingänge bei den Amtsgerichten um 35% zurückgegangen, aber gleichzeitig gibt es das Phänomen, dass die Gerichte sich massiv überlastet fühlen. Das passt nicht zusammen. Tatsächlich wandern viele Konflikte ab aus der Justiz und gehen in private Foren, wo sie außerhalb des Zivilrechts gelöst werden, wie zum Beispiel bei Paypal oder Ebay.
Warum sind die Gerichte denn trotz rückläufiger Zahlen dann so belastet?
Ich glaube, sie sind deshalb so belastet, weil sie anhand der analogen Bearbeitung von Gerichtsakten ausgerichtet sind. Die Justiz hat noch nicht den Schritt zu einer digitalen Arbeitsform gemacht, weil sie von der Politik allein gelassen wurde. Sie hat noch kein angemessenes Projektmanagement und keine Governance, wie man sie bräuchte, um auf die veränderten Konfliktlösungserwartungen der Prozessbeteiligten zu reagieren oder Massen-Verfahren zu managen. Die Herausforderungen bei der Aufstellung und Arbeitsweise der Justiz sind aus unserer Sicht noch dringlicher als etwa die jüngere Diskussion, ob man die ZPO mit Blick auf einen Tatbestand von "Massenverfahren" anpasst oder wie viel zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt wird.
Zurück zu den Unternehmen und Verbänden: In Bezug auf die Zukunft blieb auf den Panels heute etwas im Ungefähren, was das nächste "große Ding" wird. Wo geht die Reise hin? Welche anwenderbezogenen Geschäftsmodelle werden aus Sicht ihrer Mitglieder der Verbände kommen?
Das Diesel-Phänomen flaut ab. Dadurch ist jetzt nicht mehr so ein selbstverständliches Fallvolumen mit den typischen Angreifer-Strukturen im Markt. Ein interessantes Phänomen, das sich momentan herausbildet, würde ich als „Großkanzleien für Verbraucherrecht“ bezeichnen. Das sind Kanzleien wie Rightmart, die die Mannstärke von typischen Großkanzleien im B2B-Bereich, aber eine operative Ausrichtung auf Verbraucherthemen haben. Sie entwickeln sich vor allem durch Größe und Beschleunigung von Prozessen.
Was machen die zum Beispiel?
Plog: Verschiedene Verbraucherthemen: Mietrecht, Geschwindigkeitsübertretungen, Arbeitsrecht, Diesel und vieles andere, was Verbraucher betrifft. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von anderen erfolgreichen Legal Tech Geschäftsmodellen im Markt, zum Beispiel die genannten Abtretungsmodelle, wobei der Bundesgerichtshof die kritischen Fragen aus meiner Sicht geklärt hat. Aber auch da sind noch Tausende Fällen in der gerichtlichen Klärung. Und im Markt Bereich der b2b Geschäftsmodelle gibt es viel Bewegung in Deutschland und spannende Angebote.
Und bei der Frage, wo es mit "Recht und KI" hingeht, besteht noch Unsicherheit?
Ja, das ist noch ein recht frühes Stadium und alle müssen sich ihre Karten legen.
Was glauben Sie, welchen Einfluss wird eine Sprach-KI wie ChatGPT auf dem Rechtsmarkt haben?
Ich glaube, dass sie bei der Rechtsberatung eine große Rolle spielen werden, weil wir jetzt schon sehen, dass diese Sprachmodelle in der Lage sind, Rechtsfragen zu einem hohen Grad richtig zu beantworten, indem sie Informationen auf Grund von Kontextualisierung zusammenziehen. Diese Systeme verstehen oft gar nicht, was sie auswerfen, sondern sie kombinieren Informationen, aber das inzwischen mit einer enormen Qualität.
Die Entwicklungsgeschwindigkeit spricht dafür, dass sich das noch sehr viel weiterentwickeln wird, sodass es mittelfristig durchaus sein kann, dass eine ganze Reihe von anwaltlichen Kerntätigkeiten, die in der Klärung der Rechtsfrage oder -lage bestehen, aus den Kanzleien herauswandern werden.
Das wird wiederum Auswirkungen haben auf alle Facetten des anwaltlichen Arbeitens, auf die Abrechnung, aber auch auf die Entwicklung von anwaltlichen Produkten und auf den Rekrutierungsmarkt. In den nächsten ein bis zwei Jahren werden wir einen Paradigmenwechsel erleben.
Herr Plog, vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Philipp Plog ist Vorstandsvorsitzender des Legal Tech Verbands Deutschland e.V. und Managing Partner Deutschland und Mitglied des Executive Committee der internationalen Anwaltskanzlei Fieldfisher.
Legal Tech Day in Berlin: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52865 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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