Einige Länder wären bereit, mehr Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, doch der Innenminister blockt. Ändern könnte das eine BR-Initiative aus Berlin und Thüringen. Die aber lehnen Union und SPD im Bundestag ab.
Der Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem ausgebrannten Camp in Moria nimmt an Schärfe zu. Grund ist, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Angebote diverser Länder und Kommunen, eine große Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, immer noch ablehnt. Seehofer steht dafür in der Kritik, unter anderem forderte ihn SPD-Vize Chef und Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert zum Rücktritt auf, sollte dieser seine Haltung in der Frage von Flüchtlingen aus Moria nicht ändern.
Indes: Mehr Flüchtlinge könnten die Bundesländern in Eigenregie auch dann aufnehmen, wenn eine Bundesratsinitiative Thüringens und Berlin, die vor allem vom berliner SPD-Innensenator Norbert Geisel angestoßen wurde, im Bundesrat und später dann im Bundestag eine Mehrheit finden würde. Allerdings bremst hier ausgerechnet auch die SPD-Bundestagsfraktion.
Es geht um § 23 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Dieser erlaubt obersten Landesbehörden grundsätzlich, aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland "Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen" eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Problem nur: Die Vorschrift sieht bislang auch vor, dass der Bundesinnenminister hierfür grünes Licht geben muss.
Innenminister soll nur noch informiert werden
Eine Bundesratsinitiative der Länder Thüringen und Berlin wollte das bereits letztes Jahr im September ändern. Sie soll nun erneut in dieser Woche dem Bundesrat vorgelegt werden: Danach soll § 23 Absatz 1 Satz 3 AufenthG dahingehend geändert werden, dass die Länder das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat zukünftig lediglich informieren anstatt dessen Einvernehmen einholen zu müssen. Somit könnten die Länder selbst mehr Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und gleichzeitig unkomplizierte Hilfe für Geflüchtete leisten.
Allerdings: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass weder Union noch die SPD die Initiative der Länder eines Tages im Bundestag unterstützen wird. So bekräftigte der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Dr. Dr. Mathias Middelberg, gegenüber LTO: "Im Bereich der Migrationspolitik müssen wir bundeseinheitlich handeln. § 23 Aufenthaltsgesetz setzt daher zu Recht das Einvernehmen des Bundesinnenministeriums voraus", so Middelberg. Die Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen habe stets gesamtgesellschaftliche Auswirkungen. Außerdem seien anerkannte Flüchtlinge "nicht dauerhaft zu einem Aufenthalt in der Kommune oder dem Bundesland verpflichtet, das ihn ursprünglich übernommen hat".
Auf dieses Argument hatte auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hingewiesen, der in einem Gutachten im Juni 2018 die Aufnahmeprogramme- und möglichkeiten der Länder auf Grundlage von § 23 AufenthG unter die Lupe genommen hatte. Die Bundeseinheitlichkeit sei schon wegen der mit der Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich verbundenen Freizügigkeit der Ausländer im Bundesgebiet erforderlich, heißt es in dem Gutachten.
SPD-Bundestagsfraktion: Mehr Länderkompetenzen "enden im Chaos"
Dass die Union die Rechtslage zu Gunsten ihres CSU-Bundesinnenministers verteidigt, überrascht nicht. Allerdings erteilte auch die innenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Ute Vogt, der Initiative gegenüber LTO eine klare Absage: "Ich habe viel Verständnis dafür, dass Bundesländer und Kommunen Menschen von den griechischen Inseln aufnehmen wollen und freue mich über diese Bereitschaft. Trotzdem muss die Entscheidung darüber bundeseinheitlich getroffen und die Aufnahme durch den Bund koordiniert werden. Wenn jedes Bundesland unabgestimmt sein eigenes Programm aufsetzt, endet das im Chaos".
Würde man der BR-Initiative nachkommen, bestehe auch die Gefahr einer "Zwei-Klassengesellschaft" bei den Aufgenommenen, warnte Vogt. "Diejenigen, die momentan aus Griechenland über ein Bundesprogramm kommen sowie diejenigen, die aus Seenot gerettet werden, müssen hier noch ihr Asylverfahren durchlaufen. Diejenigen, die über ein Landesaufnahmeprogramm kommen, bekommen hingegen gleich einen Aufenthaltstitel, ohne dass der tatsächliche Schutzbedarf noch überprüft wird. Ein Zustimmungserfordernis durch den Bund finde ich daher richtig."
Uneinheitlich zeigt sich unterdessen die Opposition in der Bewertung der Initiative. Während AfD und FDP den Vorschlag ablehnen, signalisierte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Luise Amtsberg, gegenüber LTO Zustimmung: "Es geht bei dem Vorschlag Berlins und Thüringens darum, die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung dort zu fördern, wo sie am wichtigsten ist: in den Bundesländern und Kommunen - denn dort findet die Integration statt." Solange der Bund die Aufnahmebereitschaft der Länder und Kommunen ignoriere, müssten die Länder in Eigenregie Geflüchtete aufnehmen können, so Amtsberg.
AfD und FDP lehnen Änderung der Rechtslage ab
Dagegen verteidigte AfD-Rechtspolitiker Stephan Brandner die geltende Rechtslage: "Das Zustimmungserfordernis nach § 23 AufenthG ist eine der letzten Brandmauern gegen eine ungeregelte, unkoordinierte, ideologisierte und chaotische Migrationspolitik der einzelnen Bundesländer", so Brandner zu LTO.
Stephan Thomae, FDP-Fraktionsvize im Bundestag, forderte im Gespräch mit LTO Innenminister Seehofer auf, endlich einen Migrationsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen einberufen. Die Bereitschaft der Länder und Kommunen, mehr tun zu wollen, dürfe vom Bund nicht wie bislang konsequent ignoriert werden, sagte er. Mehr rechtliche Befugnisse für aufnahmewillige Länder im AufenthG will allerdings auch die FDP nicht: "Eine Preisgabe des Einvernehmens in § 23 AufenthG ist abzulehnen. Die Länder sollten nicht die Migrationspolitik des Bundes bestimmen."
Zweifel, inwieweit der Vorschlag aus Berlin und Thüringen überhaupt verfassungskonform ist, äußerte Ausländer- und Asylrechtsexperte Prof. Dr. Daniel Thym von der Universität Konstanz gegenüber LTO. Thym verwies auf Artikel 32 Absatz 1 Grundgesetz, wonach "die Pflege der auswärtigen Beziehungen Sache des Bundes" sei. Dies könne so interpretiert werden, "dass der Bund ohne weiteres generell und ohne Einspruchsoption die Länder ermächtigen kann", sagte er. "Der Zwang zum politischen Einvernehmen mag daher durchaus sinnvoll sein, denn er zwingt Bund und Länder sich zusammenzusetzen und zu einigen. Was dann herauskommt, ist eine politische Entscheidung, die durch das Recht nicht vorgegeben wird."
Geht es auch ohne den Bund?
Der Klageweg auf Ersetzung der Zustimmung des BMI oder die Änderung des § 23 AufenthG sind aber nicht die einzigen Möglichkeiten, um Menschen aus Moria nach Deutschland zu holen. So erklärte der Republikanische Anwälte und Anwältinnenverein (RAV), es sei richtig, rechtliche Schritte gegen den Bund zu prüfen, allerdings sei eine zeitnahe gerichtliche Klärung nicht zu erwarten und der Ausgang ungewiss. In einem Gutachten schlägt der RAV den Ländern deshalb andere Möglichkeiten vor.
"Tatsächlich sind die Länder nicht auf das BMI angewiesen", sagt Dr. Matthias Lehnert, Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im RAV. Alternativen zur Zustimmung nach § 23 AufenthG lägen aber im Familiennachzug, in der humanitären Aufnahme im Einzelfall oder in der zum Schulbesuch bei Minderjährigen.
Für eine Aufnahme von Geflüchteten aus Moria nach den Regelungen des Familiennachzugs gem. §§ 27 ff. AufenthG muss bereits ein Familienmitglied die Asylberechtigung oder die Flüchtlingseigenschaft in Deutschland zuerkannt bekommen haben. Auch subsidiär Schutzberechtigte können ihre engsten Familienangehörigen nach Deutschland holen, das Kontingent ist seit August 2018 auf 1000 Personen monatlich gedeckelt – eine Anzahl, die allerdings seit Monaten nicht erreicht wird: Zur Eindämmung der Corona-Pandemie hatten Deutschland und die anderen EU-Staaten bereits Mitte März zudem ein weitreichendes Einreiseverbot für Bürger der allermeisten Nicht-EU-Länder vereinbart. Anfang Juli wurden die Beschränkungen für einige Länder wieder gelockert.
In allen anderen Fällen setzt der Familiennachzug üblicherweise die Sicherung des Lebensunterhaltes voraus. Davon kann in atypischen Fällen abgesehen – und von einem solchen atypischen Fall geht das Gutachten des RAV angesichts der Situation in den griechischen Hotspots aus.
Dringende humanitäre Gründe oder Schulbesuch
Auch aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen kann ein Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, und zwar nach § 22 AufenthG – nach Ansicht des RAV kann das eine Rechtsgrundlage für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria sein, ohne dass es der Zustimmung des BMI bedürfte. "Zuständig wäre für die Erteilung einer solchen Erlaubnis die regionale Ausländerbehörde, das kann also ganz pragmatisch jedes Land für sich regeln", erklärt Lehnert. Ähnliches gelte für die Aufnahme Minderjähriger für den Schulbesuch nach § 16f AufenthG.
Einfach wäre die Aufnahme allerdings gleichwohl nicht. Das größte Problem stellt die Auswahl derer dar, die aufgenommen werden sollen. "Auch in den genannten Varianten müssen die Menschen ein Verfahren durchlaufen und Dokumente über ihre Herkunft und ihr Alter vorlegen", so Lehnert. Genau darin liegt aber häufig das Problem: Viele Menschen haben nicht die geforderten Unterlagen, sodass zeitaufwändige Anhörungen durchgeführt werden. Über die Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem UNHCR finde man die Menschen, die am Dringendsten Hilfe bräuchten, meint Lehnert, und weiter: "Auch von der Vorlage von Identitätsdokumenten können Ausnahmen gemacht werden. Wenn man will, ist nach dem Aufenthaltsgesetz einiges möglich."
Erneute Bundesratsinitiative nach dem Brand in Moria: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42801 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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