Am Freitag stellte ein Aktionsbündnis, dem auch Unicef und das Deutsche Kinderhilfswerk angehören, einen Entwurf vor, wie das GG um Kinderrechte erweitert werden könnte. Ein Vorschlag, der bei den Bundesministerinnen für Justiz und Familie auf wenig Enthusiasmus stieß. Im LTO-Interview spricht Unicef-Vorstandsmitglied Anne Lütkes über diese Forderung, Kinder als Objekte und kindspezifische Rechte.
LTO: Sie haben einen konkreten Vorschlag vorgelegt, wie das Grundgesetz (GG) um einen Art. 2a erweitert werden könnte, der die Rechte von Kindern schützen soll. Wie viel Chancen hat Ihr Vorschlag, tatsächlich umgesetzt zu werden? Eine Grundgesetzänderung bedarf immerhin einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat.
Lütkes: Auf lange Sicht gesehen glauben wir, dass unser Vorschlag sehr gute Chancen hat. Wir sind aber natürlich auch Realisten. Das Aktionsbündnis wurde 2007 gegründet, seitdem haben wir eine lange politische und verfassungsrechtliche Diskussion hinter uns und sind der festen Überzeugung, dass jetzt – zum Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention und ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl – ein guter Zeitpunkt ist, den Vorschlag auf den Tisch zu legen.
Zwar gehen wir nicht davon aus, dass es noch in dieser Legislaturperiode zu einer Verfassungsänderung kommen wird. Auch wenn wir das natürlich sehr schön fänden. Aber spätestens mit der Bundestagswahl muss jeder, der Mitglied des Gesetzgebers werden möchte, sagen, wie er zu unserem Vorschlag steht.
"Das Kindeswohl gilt nicht bloß im Familienrecht"
LTO: Sie fordern, dass bei jedem staatlichen Handeln, das die Rechte und Interessen von Kindern berührt, dem Kindeswohl Vorrang eingeräumt werden soll. Ist das nicht eine sehr weit gehende pauschale Regelung? Kein anderes Grundrecht – außer der Menschenwürde – genießt einen solchen generellen Vorrang. Vielmehr sind regelmäßig die einander gegenüberstehenden Rechte in Ausgleich zu bringen.
Lütkes: Das ist die Formulierung von Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention und auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das Kindeswohl als ein vorrangiges Ermessenskriterium akzeptiert. Wir gehen dennoch davon aus, dass Rechte abzuwägen sind. Derzeit wird das Kindeswohl aber gar nicht erst als notwendig abzuwägendes Recht wahrgenommen. Wir glauben, dass mit dieser Formulierung ein echter Schub für die Beachtung des Kindeswohls erreicht werden kann.
LTO: Also doch kein absoluter Vorrang?
Lütkes: Letztlich muss der Geist der UN-Konvention in innerdeutsches Recht einfließen. Zwar ist die Kinderrechtskonvention selbst auch innerstaatliches Recht, aber die Kenntnis von Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention ist häufig auch bei Richtern nicht vorhanden. Wenn überhaupt, dann wird in der familienrechtlichen Debatte darauf verwiesen. Das Kindeswohl ist aber kein bloßes familienrechtliches Abwägungskriterium, sondern muss Voraussetzung für sämtliches staatliches Handeln sein.
"Kinder haben bisher in unserer Verfassung Objektrang"
LTO: Die Bundesjustizministerin wies in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesrat darauf hin, dass eine ausdrückliche Normierung von Kinderrechten im Grundgesetz Kindern nicht mehr Rechte verschaffen würde. Werden Kinder nicht schon umfassend durch die anderen Grundrechte geschützt?
Lütkes: Kinder sind Persönlichkeiten eigener Art, eben keine kleine Erwachsenen. Deshalb müssen die Rechte der Kinder in ganz besonderer Weise geschützt werden. Es gibt kindspezifische Rechte, wie das Recht auf Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, das Recht auf Förderung und Beteiligung. Diese Rechte stehen bisher nicht explizit im Grundgesetz. Kinder haben bisher in unserer Verfassung Objektrang, und keine Subjektstellung. Das wollen wir ändern.
LTO: Sie beziehen sich auf Art. 6 GG, wenn sie sagen, Kinder hätten bisher nur Objektrang? Alle anderen Grundrechte adressieren Kinder aber doch durchaus auch als Subjekt?
Lütkes: Das BVerfG hat ja auch bereits festgestellt, dass Kinder Träger von Grundrechten sein können. Aber es ist überfällig, dass das explizit formuliert wird. Die genannten kindspezifischen Rechte sind bisher auch so nicht im GG zu finden.
"Gegen das Beschneidungsgesetz könnte Verfassungsbeschwerde erhoben werden"
LTO: Was genau würde der generelle Vorrang des Kinderrechts durch die Verankerung im Grundgesetz in der Praxis ändern? Können Sie Beispiele nennen?
Lütkes: Das wird eine Veränderung sein, die quer durch die Gesellschaft und die Rechtsgebiete geht. Vom Jugendhilferecht, über das Straßenverkehrsrecht bis hin zum Baurecht und selbstverständlich auch im Bildungsbereich und der Haushaltsgesetzgebung. Zu massiven Veränderungen wird es vor allem im Baurecht kommen. Bei jeder Genehmigung und Planrechtfertigung werden die Belange der Kinder in die Abwägung mit einbezogen werden müssen. Wir werden Politik auf Kindernasenhöhe machen müssen.
LTO: Um ein ganz konkretes Beispiel zu nennen, wäre das Beschneidungsgesetz in der jetzt diskutierten Fassung nicht möglich?
Lütkes: Das weiß ich nicht. Das ist keine juristische Frage, sondern eine Wertungsfrage. Aber das Kindeswohl muss auf jeden Fall in diese Wertung einbezogen werden.
LTO: Das passiert aber heute ja auch schon. Die Gesetzesbegründung nennt ausdrücklich das Kindeswohl. Würde sich irgendetwas ändern, wenn die Verfassung entsprechend Ihrem Vorschlag ergänzt würde?
Lütkes: Wenn das Beschneidungsgesetz das Kindeswohl verletzt, dann könnte dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben werden.
LTO: Und das wäre heute nicht möglich?
Lütkes: Das bezweifle ich - jedenfalls nicht entlang des Verfassungswortlauts. Solange die Verfassung nicht regelt, dass das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist, könnte auch kein mit einfacher Mehrheit vom Bundestag beschlossenes Gesetz in dieser Hinsicht als nicht verfassungskonform gestoppt werden.
"Das Individualklagerecht ist internationales Recht, das den deutschen Rechtsweg nicht ersetzt"
LTO: Auch die Bundesfamilienministerin lehnte Ihren Vorschlag gegenüber der Passauer Neue Presse ab. Es gebe bereits ein Individualklagerecht für mögliche Verstöße gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Stimmen Sie dem zu?
Lütkes: Die Individualbeschwerde tritt erst in Kraft, wenn sie von zehn Staaten ratifiziert worden ist. Deutschland ist erst der dritte ratifizierende Staat, nach Gabun und Thailand. Außerdem ändert die Individualbeschwerde vor dem UN-Ausschuss für Deutschland nichts. Kinder müssen die Möglichkeit haben, sich in ihrem eigenen Land über die Verletzung ihrer Rechte zu beschweren. Das Individualklagerecht ist ein internationales Recht, das den Rechtsweg in Deutschland nicht ersetzt.
LTO: Gegner ihres Vorschlags fürchten, dass stärkere Kinderrechte die Rechte der Eltern zu stark einschränken könnten. Was können Sie diesen Befürchtungen entgegenhalten?
Lütkes: Wir haben das sehr ausführlich immer wieder diskutiert und haben in Abs. 2 unseres Vorschlags aufgenommen, dass die staatliche Gemeinschaft die Eltern bei ihrem Erziehungsauftrag unterstützt. Eine Konkurrenz zwischen den Rechten der Kinder und der Eltern wollen wir nicht. Wir wollen eine Stärkung der Rechte beider Seiten. Anlass zu Streit zwischen Kindern und Eltern bietet unser Vorschlag nicht.
"Kinder müssen keine Verfassungsrechtler sein"
LTO: Die SPD arbeitet an einem eigenen Entwurf für ein Kindergrundrecht. SPD-Kinderrechtsexpertin Marlene Ruppert schlug gegenüber der Süddeutschen Zeitung vor, einen Ombudsmann für Kinder zu schaffen nach dem Vorbild des Wehrbeauftragten im Bundestag. Was halten Sie von dem Vorschlag?
Lütkes: Wir begrüßen den Vorschlag. Es wird dann auf die Ausgestaltung ankommen.
LTO: Das Aktionsbündnis fordert auch eine Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre. Ist das nicht sehr jung?
Lütkes: Das Wahlalter abzusenken ist gleichzeitig eine Verpflichtung für die Gesellschaft, die Politiker und den Gesetzgeber. Denn parallel dazu muss die demokratische Erziehung und Bildung verstärkt werden. Die Absenkung des Wahlalters korrespondiert mit unserem Vorschlag, das Recht auf Beteiligung in das Grundgesetz aufzunehmen. Beteiligung erfordert aber natürlich auch die Fähigkeit, sich beteiligen zu können.
LTO: Haben an der Ausarbeitung Ihres Vorschlags auch Kinder mitgewirkt?
Lütkes: (lacht) An der Formulierung haben die Kinder nicht mitgewirkt. In den Organisationen, die unser Bündnis tragen, gibt es aber eine breite Beteiligung von Kindern. Die Unicef-Juniorbotschafter waren gerade erst letzte Woche bei der Bundeskanzlerin und haben mit ihr intensiv über die Forderung diskutiert und sich durch ihre Gegenargumente nicht davon abbringen lassen. Im Gegenteil: Mir wurde berichtet, dass die Kanzlerin ihre ablehnende Haltung überdenken will.
Mitwirkung muss immer auch kinderangemessen sein und dem Entwicklungsstand entsprechen. Ich denke nicht, dass Kinder Verfassungsrechtler sein müssen.
LTO: Vielen Dank für das Gespräch.
Anne Lütkes ist Regierungspräsidentin in Düsseldorf und Vorstandsmitglied von Unicef Deutschland.
Das Gespräch führte Dr. Claudia Kornmeier.
Aktionsbündnis Kinderrechte ins Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 20.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7587 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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