Ex-Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem scheidet nach 12 Jahren aus der Venedig-Kommission des Europarats aus. Jetzt erklärt er, wie die Kommission arbeitet und ob sie bei der Förderung von Demokratie und Rechtsstaat erfolgreich war.
Welche Aufgabe hat die Venedig-Kommission?
Hoffmann-Riem: Sie ist ein Gremium des Europarats und erarbeitet insbesondere Stellungnahmen zu konkreten Fragen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten.
Seit wann gibt es diese Kommission?
Sie wurde erst 1990 gegründet. Die Initiative kam nach dem Fall der Berliner Mauer von Antonio La Pergola, einem italienischen Professor, Richter und Politiker. Er wollte, dass der Europarat ein Beratungsorgan schafft, das insbesondere den Staaten Osteuropas bei der Entwicklung einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung hilft.
"Die Venedig-Kommission ist weltweit einzigartig"
Gab es ein Vorbild hierfür?
Nein. Und die Venedig-Kommission ist bis heute weltweit einzigartig.
Was hat die Kommission mit Venedig zu tun?
Das Plenum trifft sich viermal im Jahr in Venedig. Deshalb hat sich der Name Venedig-Kommission eingebürgert. Der offizielle Name ist "Kommission für Demokratie durch Recht".
Wie viele Mitglieder hat die Venedig-Kommission?
Die Kommission wird heute von 61 Staaten getragen und hat daher auch 61 persönliche Mitglieder. Beim Start im Jahr 1990 waren es nur 20 Staaten und 20 Mitglieder.
Welche Qualifikationen haben die Mitglieder der Kommission?
Überwiegend sind es Rechtsprofessoren, aber auch zahlreiche aktive und ehemalige Richter, gelegentlich Politiker, vereinzelt auch Ministeriale.
Wer wählt die Kommissionsmitglieder aus?
Jeder Staat bestimmt ein Mitglied und einen Stellvertreter. Die Mitglieder sind unabhängig und können während der vierjährigen Amtszeit von der Regierung nicht abberufen werden.
Polen hat einen Unterstaatssekretär benannt, Serbien einen Assistenz-Minister. Sind diese Personen wirklich unabhängig?
Davon gehe ich zunächst einmal aus. Ein Staat hat auch nichts davon, einen weisungsabhängigen Apparatischik in die Kommission zu schicken. So jemand würde nicht ernst genommen.
Wie kamen Sie 2007 in die Venedig-Kommission?
Damals war ich noch Richter des Bundesverfassungsgerichts. Mein Kollege Brun-Otto Bryde war zu der Zeit eine Art Verbindungsrichter zur Venedig-Kommission. Bryde wusste deshalb, dass ein neues deutsches Mitglied gesucht wurde und fragte mich. Ich habe nicht lange überlegt, weil das eine so spannende Aufgabe ist. Ernannt wurde ich dann von der damaligen Justizministerin Brigitte Zypries.
Wieviele Gutachten erstattet die Kommission pro Jahr?
Es sind etwa 30 bis 40 jährlich, daneben verfasst sie Studien und Berichte zu Grundsatzfragen.
Sucht sich die Venedig-Kommission ihre Themen selbst?
Nein. Sie braucht jeweils den Auftrag einer antragsberechtigten Institution. Die meisten Aufträge kommen von der parlamentarischen Versammlung des Europarats. Aktuell ist zum Beispiel eine Stellungnahme zum serbischen Versammlungsgesetz angefordert. Es gibt aber auch Anfragen aus den betroffenen Staaten. So hat Nord-Mazedonien um Prüfung des dortigen Sprachgesetzes gebeten. Und Ungarn hat das Gesetz über die Verwaltungsgerichte vorgelegt. Manchmal bitten auch Verfassungsgerichte um Stellungnahmen zu dort anhängigen Streitfragen.
"Die Berichterstatter fahren als Gruppe in das jeweilige Land"
Was passiert, wenn bei der Venedig-Kommission der Antrag auf eine Stellungnahme eingeht?
Dann stellt das Sekretariat der Kommission für diese Aufgabe eine Gruppe aus drei bis fünf Kommissionsmitgliedern zusammen, den so genannten Berichterstattern.
...die dann je nach Auftrag serbisch, mazedonisch oder ungarisch sprechen können?
Nein, wir arbeiten mit englischen Übersetzungen der maßgebenden Gesetze oder der betroffenen Verfassung und sonstiger Materialen. Die Übersetzungen sind zwar nicht immer perfekt. Aber meist gibt es Mitglieder oder externe Experten, die bei Zweifeln die Übersetzung prüfen. Auch braucht die Venedig-Kommission nicht stets Einblicke in alle Details, um Grundsatzfragen klären zu können.
Wirkt auch das Kommissionsmitglied aus dem jeweiligen Land an der Vorbereitung der Stellungnahme mit?
Nein. Das ist ausgeschlossen.
Lesen die Berichterstatter nur die schriftlichen Materialien oder machen sie sich auch vor Ort ein Bild?
Wenn irgend möglich fahren die Berichterstatter als Gruppe für zwei bis drei Tage in das jeweilige Land. Dort treffen sie sich mit offiziellen Vertretern des Staates, aber auch mit der Opposition, unabhängigen Experten und Nichtregierungsorganisationen.
Und am Ende der Reise fasst die Gruppe einen Beschluss?
Nein. Jeder Berichterstatter schreibt eine eigene Ausarbeitung, regelmäßig ohne Arbeitsteilung und Absprache mit den anderen Berichterstattern. Aus diesem Input fertigt das Sekretariat der Venedig-Kommission dann den Entwurf einer Stellungnahme, den es noch einmal mit den Berichterstattern rückkoppelt. Bei besonders wichtigen oder besonders kontroversen Themen wird der Entwurf zuerst in einer Unterkommission der Venedig-Kommission beraten. Über die endgültige Stellungnahme wird im Plenum entschieden, wo mitunter noch heftig diskutiert und am Text gefeilt wird.
Wie lange dauert es vom Auftrag bis zur Stellungnahme?
Einige Monate. In Eilfällen kann es aber auch schneller gehen.
Welchen Maßstab legt die Venedig-Kommission ihren Stellungnahmen zugrunde?
Die Kommission entwickelt ihre Maßstäbe unter Auswertung der Europäischen Menschenrechtskonvention, anderer völkerrechtlicher Verträge, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), aber auch der Verfassungstraditionen etablierter Rechtsstaaten. Orientierung bieten auch frühere Stellungnahmen der Venedig-Kommission. Teilweise gibt es Kompilationen der Stellungnahmen.
Auch gibt es beispielsweise eine Checkliste zur Rechtsstaatlichkeit oder eine Orientierungshilfe für Wahlrecht.
"Die zentralen Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind nicht vage"
Geht es der Kommission um Mindestanforderungen oder um Best Praktices?
Das ist unterschiedlich. Wenn Mindestanforderungen nicht erfüllt sind, sagen wir das deutlich. Wir weisen aber auch auf Best Practices als Orientierungshilfen hin.
Das klingt relativ vage und flexibel. Wie kann sich ein Staat an solche Anforderungen halten?
Die zentralen Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind nicht vage und es gibt für sie weit reichende Übereinstimmungen.
Sonst wäre es auch nicht möglich, dass die Kommission fast immer einstimmig entscheidet. Etwas anderes ist die Bereitschaft mancher Regierungen, diese Grundsätze auch einzuhalten. Dann muss die Kommission gegebenenfalls "nachhelfen". Die dafür formulierten Feststellungen und Empfehlungen sind ebenfalls nicht vage, selbst wenn sie Raum für Flexibilität bei ihrer Umsetzung belassen. Wir sind allerdings kein Gericht, sondern ein Gutachtergremium. Wir suchen den Dialog über eine möglichst gute Verwirklichung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wie funktioniert dieser Dialog?
Wir nehmen das Vorbringen der Instanz, die die zu überprüfende Maßnahme verteidigt, ebenso ernst wie die Argumente der Kritiker. Wir entwickeln unsere Position argumentativ. Wo wir Anlass dafür sehen, loben wir. Haben wir Kritik, äußern wir sie, verbunden mit möglichst konkreten Vorschlägen oder Alternativen zur Abhilfe. Diese werden meist von den Medien des betroffenen Landes aufgegriffen und können so zum Gegenstand eines öffentlichen Dialogs werden, an dem sich dann auch die Opposition oder NGOs beteiligen. Da die Kommission in vielen von unseren Gutachten betroffenen Ländern über ein recht hohes Ansehen verfügt, fällt es mancher Regierung schwer, sich einfach über unseren Rat hinweg zu setzen.
Kontrolliert die Venedig-Kommission, ob ihre Empfehlungen umgesetzt werden?
Es gibt keine formalisierte Überprüfung und keine Berichtspflicht der Länder, erst recht keine formellen Sanktionen, wenn Empfehlungen ignoriert werden. Allerdings bemüht sich das Sekretariat, alle zugänglichen Informationen zu sammeln und in "Follw-Ups" festzuhalten. Häufig tauchen ähnliche Fragen in späteren Anforderungen von Gutachten auf, sodass die betreffende Regierung spätestens dann Farbe bekennen muss. Beabsichtigt ein Mitglied, der EU beizutreten, ist es gut beraten, unsere Empfehlungen genau zu befolgen, denn die EU orientiert sich bei der Prüfung hinreichender rechtsstaatlicher Anforderungen in dem Land auch an unseren Stellungnahmen. Das geschieht ebenso bei Überlegungen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein Land einzuleiten.
Beispiele?
Die Venedig-Kommission wurde vor den Entscheidungen über solche Verfahren gegen Ungarn und Polen eingeschaltet. Und hinsichtlich des Verhaltens in Anbetracht des Wunsches zum Betritt in die EU kann ich aktuell Georgien nennen. Für praktisch alle Staaten hat die Venedig-Kommission einen Wert als eine Art Reputationsgemeinschaft. Man möchte dabei sein, um als Demokratie und Rechtsstaat anerkannt zu werden. Erst recht möchte man nicht als rechtsstaatswidrig am Pranger stehen.
Musste schon einmal ein Staat die Venedig-Kommission verlassen?
Nein, und das ist auch gut so. Es ist wichtig, im Gespräch zu bleiben. Allerdings: Ein Staat, der sich absehbar nicht an Empfehlungen halten wird, sollte auch nicht Mitglied werden. Weißrussland zum Beispiel hat deshalb nur den Status als assoziiertes Mitglied.
"Ein erheblicher Teil der Empfehlungen wird aufgegriffen"
Ist die Venedig-Kommission erfolgreich?
Unter dem Strich: ja. Ein erheblicher Teil der Empfehlungen wird aufgegriffen. Auch ist es bemerkenswert, wie viele unserer Stellungnahmen in betroffenen Staaten mit nur unzureichender Rechtstaatlichkeit den öffentlichen Diskurs mitprägen. Ferner ist die Kommission ein wichtiger Ratgeber in vielen Foren weltweit. Auch sind unsere Stellungnahmen in mehrere Entscheidungen des EGMR eingeflossen und manche sind von staatlichen Verfassungsgerichten als Maßstab herangezogen worden
Ist die Erweiterung der Venedig-Kommission auf heute 61 Staaten auch eine Erfolgsgeschichte?
Das kann Anlass für Stolz sein, aber auch für die Besorgnis, die Kommission könnte sich dadurch übernehmen. Wir haben jetzt ja nicht nur Mitglieder aus Europa, sondern auch aus Lateinamerika, Asien und Nordafrika. Das letzte Neumitglied waren die USA. Ich fürchte, die Kommission gerät damit an die Grenze ihrer inhaltlichen Belastbarkeit und fachlichen Kompetenz. Viele Rechtskulturen anderer Kontinente unterscheiden sich erheblich von denen in Europa. Außerdem haben wir in Europa genug zu tun. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass es für die Rechtsstaatlichkeit in Staaten wie Ungarn und Polen derartige Rückschläge geben könnte wie zur Zeit?
Wie aufwändig war für Sie die Arbeit in der Venedig-Kommission?
Ich habe jährlich wohl fünf bis acht Berichterstattungen übernommen. Pro Berichterstattung benötigte ich, inklusive Reise, meist mehr als eine Woche. Hinzu kamen weitere kleinere Aufgaben und die vier Jahrestagungen, die mit Vorbereitung auch je eine Woche Zeit benötigten.
Ist die Tätigkeit gut bezahlt?
Es handelt sich um ein Ehrenamt.
Wie oft hat die Venedig-Kommission bereits Stellungnahmen zu Deutschland abgegeben?
Noch nie. Es hat bisher keine Anforderungen dazu gegeben. Sonst wäre die Kommission in Deutschland vermutlich auch bekannter.
"Nachfolgerin wird Angelika Nußberger"
Warum wollen Sie Ende April aufhören?
Antwort: Dann endet meine dritte Amtszeit. 12 Jahre sind genug. Ich werde nächstes Jahr 80 Jahre alt, jetzt sollen mal Jüngere ran.
Wer wird Sie ersetzen?
Angelika Nussberger. Sie ist gegenwärtig noch Vizepräsidentin des EGMR. Als früheres stellvertretendes Mitglied der Venedig-Kommission hat sie große Erfahrungen mit deren Arbeit und zugleich hohes Ansehen bei ihren Mitgliedern.
Wolfgang Hoffmann-Riem ist seit 2007 Mitglied der Venedig-Kommission und scheidet Ende April 2019 aus. Er war zunächst Rechtsprofessor in Hamburg. Von 1995 bis 1997 wirkte er als Hamburger Justizsenator. Von 1999 bis 2008 gehörte er dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts an.
Wolfgang Hoffmann-Riem über die Venedig-Kommission: . In: Legal Tribune Online, 24.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35035 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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