Im Mai erschien der Grundrechte-Report 2010. Der "alternative Verfassungsschutzbericht" enthält auch in diesem Jahr wieder Brisantes – und Ausführungen zum deutschen Schulsystem. Martin Rath über liberale Kritik und Griffe ins politisch links-liberale Honigglas.
Wirklich schlimm kann es nicht um die Verfassung stehen, ums Grundgesetz, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für die Hüterinnen und Hüter der Verfassung dafür der richtige Maßstab sein sollte. Einmal im Jahr – nicht zur Weihnachtszeit, sondern meist im Verfassungsmonat Mai – wird die Presse mit einem kleinen Vorstellungsritual beschenkt.
Den "großen Bruder", den Verfassungsschutzbericht, exzerpiert traditionell der Herr Bundesinnenminister. Mit dem Grundrechte-Report bemüht sich hingegen, immerhin auch schon seit 1997/98, eine Gruppe bürgerrechtlich engagierter Autoren um Aufklärung – über die mutmaßlichen Gefahren für Demokratie und Rechtstaat.
Im Gegensatz zur zähen regierungsamtlichen Prosa des Verfassungsschutzberichts, die mit echtem Nervenkitzel wohl nur der liest, der wegen radikaler Gesinnung oder Taten selbst darin vorkommt, finden sich im Grundrechte-Report gut lesbare kleine Aufsätze zu strukturellen Problemen der "lebendigen Verfassung" ebenso wie Fallberichte – die gelegentlich geeignet sind, dem Leser das Blut gefrieren zu lassen.
"Polizei- und Justizskandal"
Im Grundrechte-Report 2010 beispielsweise schreibt Bernd Mesovic, rechtspolitischer Sprecher von Pro Asyl, das härteste Stück law in action. Es handelt von dem von ihm als "Polizei- und Justizskandal" apostrophierten Feuertod des Asylbewerbers Oury Jalloh im Gewahrsam der Dessauer Polizei.
Wie schon im Report 2008 wird die mangelhafte justizielle Aufklärung des angeblichen Suizids des Polizeigefangenen Jalloh kritisiert, der sich – alkoholisiert und bewegungsunfähig gefesselt – mittels selbst zugefügter Brandverletzungen zu Tode gebracht haben soll. Anlass des neuen Berichts ist hier das Revisionsurteil des 4. Strafsenats des BGH vom 17. Januar 2010, das die ungeklärte Verantwortlichkeit in diesem Todesfall beanstandet – und auch den Korpsgeist der Polizeibehörde nicht verschweigt.
Der Grundrechte-Report versteht sich als "alternativer Verfassungsschutzbericht" – jährlich zeitnah zum "großen Bruder" öffentlich präsentiert von prominenten links-liberalen Köpfen, namentlich früheren Verfassungsrichtern und dem ein bisschen notorischen Ex-Innenminister Gerhart Baum.
Dramatisches ist glücklicherweise selten Gegenstand des Grundrechte-Reports, der sein Material traditionell entlang der Ordnung der menschenrechtlichen Verbriefungen des Grundgesetzes organisiert – von Art. 1 Abs. 1 GG bis zu den Justizgrundrechten.
Nicht dramatisch, aber brisant
Überwiegend besteht dieses Material aus rechts- und allgemein-politischen Analysen, überwiegend brisant – denn fast alles, was sich in diesem Report findet, hätte es verdient, Gegenstand schärfster parlamentarischer Debatten zu werden, statt mit dem Grundrechte-Report eine Öffentlichkeit zu suchen, die ein wenig an Phoenix am Freitagnachmittag gemahnt.
Da ist zum Beispiel ein knapper Beitrag von Ulrich Engelfried über Fixierungsmaßnahmen in deutschen Pflegeheimen. Eine Fallgruppe, die hier unter Artikel 2 Abs. 2 GG subsumiert wird. Eine "Fallgruppe"? Nein! Angesichts von geschätzt einigen 10.000 gerichtlich angeordneten Fixierungen meist alter und verwirrter Menschen fragt Engelfried zu Recht nach herrschenden Zuständen: "Macht der Gewohnheit, täglicher Skandal?" Das ist keine Frage für den Staatsschutz, aber vermutlich ist es eine Frage für jeden, der daran denkt, selbst einmal alt werden zu wollen.
Ein Beispiel, weniger für die auch grundrechtlich harte Seite des menschlichen Alterungsprozesses als für eine fast unsterbliche rechtspolitische Diskussion, bietet der Hamburger Strafverteidiger Ralf Ritter. Der Gesetzgeber hat sich 2009 bekanntlich nicht zum ersten Mal an einer Kronzeugenregelung versucht, § 46b StGB. Man kennt die Argumente zum Versuch, Beschuldigte mittels Strafnachlässen zum "Auspacken" zu ködern. Ritter referiert en miniatur, rubriziert unter Artikel 20 Abs. 3 GG, die Gegenargumente.
Hartnäckige liberale Kritik
Das ist ein Lektüreeindruck, den der Grundrechte-Report nicht selten hinterlässt: Man kennt die Argumente. Bewegt sich eine Diskussion derart in der Endlosschleife wie jene um die immer wieder hervorgeholte Kronzeugenregelung, mag man sich inzwischen sattgehört haben. Die Report-Autoren dürfen hier gleichwohl ein Lob erwarten: Sie geben sich nicht damit zufrieden, wenn sich Gesetzgeber oder öffentliche Verwaltung gegenüber Argumenten taub stellen, die meist von einem Standpunkt liberaler Kritik aus formuliert sind.
Schwächer ist der Grundrechte-Report überall dort, wo er, statt Eingriffe in Menschenrechte oder strukturell grundrechtshinderliche Zustände anzuprangern, politisch linke Evergreens vorträgt – um es etwas grobschlächtig zu formulieren.
Beim einzigen Eintrag des diesjährigen Reports zu Artikel 9 Abs. 1 GG, in dem der Arbeitsrechtler Dieter Hummel das Aufkommen so genannter "Scheingewerkschaften" kritisiert, mag das gerade noch angehen. Selbst wenn sich sein Beitrag als kleine Schutzschrift für das lesen lässt, was man gehässig das "Arbeitsmarktkartell" der großen Gewerkschaften und Arbeitgeber (-verbände) genannt hat.
... und das links-liberale Honigglas
Als ein etwas zu tiefer Griff ins Honigglas vielleicht wünschbarer, vermutlich aber kaum von Verfassungs wegen einklagbarer Gesellschaftszustand ist im vorliegenden Grundrechte-Report beispielsweise ein Beitrag von Annett Mängel zu nennen, der unter Artikel 3 GG die "Ständische Schule" behandelt und die Verfassungsverletzung in seinem Untertitel unterstellt: "Fortwährende Ungleichheit durch das gegliederte Schulsystem". Das ist doch sehr off topic, das ist schulpolitische Diskussion. Das dreigliedrige Schulsystem als grundrechtshinderlicher Makel? Liegt der nicht eher in der Zwangsbeglückung an sich entwicklungsfähiger Kinderköpfe mit Inhalten, die sie fürs Leben nicht brauchen?
Doch der Fehlgriff ins links-liberale Honigglas verklebt insgesamt nicht die Seiten des Grundrechte-Reports 2010. Es ist trotz vieler beklagenswerter Zustände ein fast schon beruhigendes Zeichen für die Republik, dass ihre Freiheiten nicht von beamteten Verfassungsschützern besorgt werden. Das ist den engagierten bürgerrechtsbewegten "Hüterinnen und Hütern" zu verdanken.
Für künftige Auflagen des Grundrechte-Reports wünschte man sich ein klein wenig mehr political self-restraint und eine Erweiterung des Autorenkreises: Warum nicht einen AKW-Befürworter über Unternehmensrechte referieren lassen – oder einen Reederei-Justitiar über Eigentumsgefährdung durch somalische Piraten? Für die traditionellen Leser und Autoren des Grundrechte-Reports wäre das eine Zumutung, gewiss.
Der Spannung täte es aber gut.
"Grundrechte-Report 2010" - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, herausgegeben von Müller-Heidelberg und anderen, Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuchverlag), Mai 2010, 9,95 Euro, ISBN 978-3-596-18678-5
Der Autor Martin Rath ist Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Grundrechte-Report 2010: . In: Legal Tribune Online, 26.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/813 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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