Marie Luise Graf-Schlicker, Ex-Abteilungsleiterin im Justizministerium, fordert die audio-visuelle Aufzeichnung von Strafprozessen. Am morgigen Samstag spricht sie in Regensburg auf dem Strafverteidigertag.
LTO: Frau Graf-Schlicker, Sie leiteten ab 2007 im Justizministerium (BMJV) die Abteilung für Rechtspflege, zu der auch das Strafprozessrecht gehört. Seit einigen Monaten sind Sie im Ruhestand, aber ein Thema beschäftigt Sie weiter. Brauchen wir im Strafprozess eine präzise Dokumentation der Hauptverhandlung?
Graf-Schlicker: Ja. Es ist - auch im internationalen Vergleich - nur schwer verständlich, dass Aussagen im deutschen Strafprozess nicht wörtlich erfasst werden. Gerade im Strafverfahren, wo es darum gehen kann, dass der Angeklagte seine Freiheit verliert, sollten wir naheliegende Fehlerquellen ausschalten. Das Strafurteil sollte nicht nur auf Erinnerungen oder Mitschriften der Richter beruhen, sondern auf dem, was die Prozessbeteiligten in der Hauptverhandlung wirklich gesagt haben.
Vertrauen Sie den Richtern nicht?
Doch, aber wir wissen aus der Wahrnehmungspsychologie, dass jeder das Gehörte anders wahrnimmt, sich anders erinnert, andere Dinge für wichtig und notierenswert hält. Beim ersten Eindruck lassen wir uns manchmal von Eloquenz oder korrektem Auftreten blenden.
"Richter könnten sich ganz auf das Geschehen im Gerichtsaal konzentrieren"
Wenn Richter nicht mehr mitschreiben müssen, wäre das auch eine Entlastung für sie...
Ich glaube schon. Sie könnten sich ganz auf das Geschehen im Gerichtsaal konzentrieren, Angeklagte und Zeugen bei ihrer Aussage genau beobachten, statt auf das Blatt oder die Tastatur vor sich schauen zu müssen.
Welche Form der Dokumentation wäre am besten: ein Tonband, eine audio-visuelle Kamera-Aufzeichnung oder ein schriftliches Wortprotokoll?
Eigentlich halte ich die audio-visuelle Aufzeichnung für die bestmögliche Lösung, denn dabei können auch die Mimik und Gestik festgehalten werden, die bei einer Aussage wichtig sind. Aber der Widerstand gegen diese Maßnahme in der Justiz ist noch groß. Deshalb könnte man zunächst an kleinere Schritte denken und mit einer Tonaufzeichnung beginnen.
Ist es nicht viel einfacher, mit einem schriftlichen Wortprotokoll zu arbeiten? Man kann nach bestimmten Worten suchen, man kann leichter quer lesen und Unwichtiges überspringen.
Ich bin überzeugt, dass die Technik hier Unterstützung leisten und das gesprochene Wort verschriften könnte.
Sie denken an moderne Diktiergeräte mit Spracherkennung? Aber kann man das Diktiergerät mit der akustischen Situation in einem großen Gerichtssaal vergleichen?
In großen Prozessen haben auch heute schon alle Verfahrensbeteiligte ein Mikrofon vor sich. Da wäre die Qualität einer Aufzeichnung ähnlich gut wie bei einem Diktiergerät.
Soll der Vorsitzende dann einen schluchzenden Zeugen auffordern, mit dem Schluchzen aufzuhören, damit ihn die Sprachsoftware besser versteht?
Ein erfahrener Richter wird in dieser Situation sicher die richtige Maßnahme treffen, etwa die Verhandlung unterbrechen. Es ist im Übrigen nichts Neues, dass Technik auch in sensiblen gerichtlichen Situationen genutzt wird. Denken Sie an einen hoch-emotionalen Sorgerechtsstreit, bei dem der Vorsitzende Aussagen mit dem Diktiergerät zusammenfassen muss.
Was ist mit den Persönlichkeitsrechten? Ist nicht zu befürchten, dass Aufzeichnungen von Zeugenaufnahmen alsbald im Internet kursieren?
Wie kommen Sie darauf? Es geht hier doch nicht um eine öffentliche Übertragung von Zeugenaussagen. Die Aufzeichnung dient nur dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten.
Schon klar. Aber wenn es Dateien gibt, können sie in falsche Hände geraten...
Wenn man bei jedem Fortschritt nur an dessen Missbrauch denkt, wird es nie Fortschritt geben. Ich halte solche Befürchtungen jedenfalls nicht für sehr realistisch. Schon seit vielen Jahren haben wir die Möglichkeit, im Ermittlungsverfahren die Aussage von kindlichen Opferzeugen aufzuzeichnen, damit sie in der Hauptverhandlung nicht erneut vernommen werden müssen. Auch damals wurde befürchtet, dass solche Aufnahmen in einschlägigen Foren zirkulieren werden. Mir ist bis heute aber kein einziger derartiger Fall bekannt.
Soll nur das Gericht Zugriff auf die Aufzeichnungen erhalten oder auch die Verfahrensbeteiligten?
Auch Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage sollten die Aufzeichnung schon während der Hauptverhandlung nutzen dürfen, zum Beispiel um einem neuen Zeugen die Aussagen bisheriger Zeugen präzise vorhalten zu können, aber vor allem, um das eigene Plädoyer vorzubereiten.
"Das dauert nicht länger, als sich anhand eigener Aufzeichnungen vorzubereiten"
Wird die Aufzeichnung der Hauptverhandlung künftig länger dauern, weil das Gericht und die Verfahrensbeteiligten immer wieder Zeit brauchen, um alte Zeugenaussagen neu anzuhören?
Nein. Das dauert nicht länger, als sich anhand eigener Aufzeichnungen vorzubereiten.
Wirklich? Es ist dann ja viel mehr Material vorhanden, also braucht man auch länger, um es sich noch einmal zu vergegenwärtigen...
Schon heute haben Richter oft stundenlang die Ergebnisse von Telefonüberwachungen anzuhören, dennoch werden diese technischen Ermittlungsmethoden eingesetzt, um die Wahrheit bestmöglich zu ermitteln. Auch bei dem Einsatz technischer Mittel zur Dokumentation der Hauptverhandlung geht es um die Verbesserung der Wahrheitsfindung.
Wird es mit der Aufzeichnung der Hauptverhandlung mehr erfolgreiche Revisionen geben?
Das glaube ich nicht. Unklarheiten, was ein Zeugetatsächlich gesagt hat, können objektiv geklärt werden, so dass Streit darüber nicht entstehen wird.
Bisher konnten Richter die Zeugenaussagen im Urteil so zusammenfassen, dass sie revisionssicher das gerecht erscheinende Urteil stützen. Künftig wären solche sauber frisierten Urteile nicht mehr möglich?
Ich halte schon Ihre Annahme für falsch. Richter verfälschen nicht absichtlich Zeugenaussagen, damit sich das Urteil schlüssig liest. Wenn ich von Fehlern spreche, meine ich ausschließlich unbewusste Fehler: ungenaue Erinnerungen, ungenaue Mitschriften.
Muss ein Revisionsgericht künftig stundenlang Videos anschauen oder Tonbänder anhören?
Nein. In der Revision muss genau benannt werden, welche Aussage an welcher Stelle im Urteil falsch wiedergegeben wurde. Nur diese Aussage müsste dann punktuell überprüft werden.
Wenn die Revision aber geltend macht, das Tatgericht habe bei seiner Interpretation einer Zeugenaussage in der Gesamtschau Denkgesetze verletzt, dann muss doch die ganze - eventuell tagelange - Aussage angehört werden?
Wenn wir unser bewährtes Revisionsrecht anwenden, ist das ausgeschlossen. Danach muss ein Fehler bei Betrachten des Beweismittels ohne weiteres punktgenau erkennbar sein. Das Revisionsgericht soll keine Aufgaben des Tatgerichts übernehmen.
Die Expertenkommission zur Reform des Strafverfahrens hat 2015 empfohlen, die audio-visuelle Dokumentation von Strafprozessen zu prüfen. Vor der Einführung müsse aber sichergestellt werden, dass das Revisionsgericht nicht die gesamte Beweisaufnahme anhand der Aufzeichnung nachvollziehen muss. Ist das Problem gelöst?
Ja, inzwischen gibt es eine genauere Untersuchung dazu von Bundesanwalt Ralf Wehowsky, die auch in NStZ 2018, 177ff. veröffentlicht ist. Sein Ergebnis: Wenn die Rechtsprechung des BGH zur Abgrenzung der Aufgaben von Revisions- und Tatgericht weiter hinkonsequent angewandt wird, ist das von der Expertenkommission aufgeworfene Problem gut lösbar.
"Es wird weniger Urteile geben, in denen über tatsächliche Aussagen gestritten wird"
Sie sehen den Vorteil einer Aufzeichnung des Strafprozesses also eher in der Hauptverhandlung als in der Revision?
Ja. Denn es wird weniger Urteile geben, in denen über tatsächliche Aussagen gestritten wird, wenn die Verfahrensbeteiligten und das Gericht auf die Aufzeichnungen der Aussagen zugreifen können.
Soll die Aufzeichnung in allen Strafprozessen eingeführt werden?
Gedacht werden könnte daran, diese Art der Dokumentation zunächst auf erstinstanzliche Verfahren vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht zu beschränken. In solchen Verfahren gibt es nur eine Tatsacheninstanz, sodass eine fehlerfreie Beweiswürdigung besonders wichtig ist. Zumindest aber sollte eine Aufzeichnung in Verfahren mit der höchsten Strafdrohung erfolgen. Am Landgericht wären das die Verfahren vor dem Schwurgericht. Für das Ermittlungsverfahren ist mit dem Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 bereits eine begrenzte Verpflichtung zur Bild-Ton-Aufzeichnung geschaffen worden. Diese Regelung tritt aber erst am 1. Januar 2020 in Kraft, um den Ländern ausreichend Zeit für die Ausstattung der Dienststellen mit der erforderlichen Technik einzuräumen.
Sollte die Reform für die Hauptverhandlung als Pilotprojekt an einzelnen Gerichten ausprobiert werden?
Nein. Besser sind vielfältige Erfahrungen in allen Bundesländern. Ich halte daher eine flächendeckende Einführung in einer begrenzten Anzahl von Verfahren für sinnvoll. Nach einigen Jahren sollte die Reform evaluiert werden.
Was schätzen Sie: Wie schnell wird die Aufzeichnung von Strafprozessen kommen?
Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, die Zeit ist reif. Die Einführung der elektronischen Akte, die bis 2026 abgeschlossen sein soll, wird ebenfalls einen Impuls geben. Denn dann ist auch klar, wo die Aufzeichnungsdateien abgelegt werden können. Zwar sind die Bedenken in der Justiz noch groß. Aber es gibt immer mehr Richter, die mit technischem Equipment aufgewachsen sind und entsprechend offener für technische Aufzeichnungen sind.
Marie Luise Graf-Schlicker war von 2007 bis 2018 Abteilungsleiterin im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Sie war zunächst Richterin in Nordrhein-Westfalen und arbeitete später hochrangig im NRW-Justizministerium. Von 2002 bis 2007 war sie Präsidentin des Landgerichts Bochum.
Interview zur Dokumentation von Strafprozessen: . In: Legal Tribune Online, 22.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34535 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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