19 ausgewählte Experten machen der Politik Vorschläge zur Pandemiebekämpfung und nehmen dabei auch mögliche Folgen der Maßnahmen in den Blick. Juristen jedoch fehlen in dem Gremium. Das sorgt nicht nur bei Verfassungsrechtlern für Kritik.
Eine erste Stellungnahme hat das von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Mitte Dezember einberufene Expertengremium zur wissenschaftlichen Begleitung der Covid-19-Pandemie bereits fünf Tage nach seiner Ernennung abgegeben. Am 19.Dezember sprach es sich einmütig mit 19 von 19 Stimmen wegen der herannahenden Omikron-Welle u.a. für zeitnahe Kontaktbeschränkungen aus. Eine Bund-Länder-Runde nahm daraufhin am 22.Dezember die Vorschläge der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf. Spätestens seit dem 28. Dezember gelten bundesweit verschärfte Kontaktbeschränkungen – auch für Geimpfte.
In dieser Woche kommen die 19 Expert:innen erneut per Videoschalte zusammen. Und es ist davon auszugehen, dass das Gremium spätestens am Donnerstag wieder die Weichen für die nächsten Corona-Entscheidungen der Politik stellen wird: Schließlich treffen sich am 7. Januar die Ministerpräsident:innen mit der Bundesregierung. Erwartet werden dann Beschlüsse zur Verkürzung von Quarantänezeiten, aber wohl auch weitere Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte.
Während der 19-köpfige Expertenrat an seinen nächsten Vorschlägen für weitere Corona-Maßnahmen arbeitet, kommt jedoch Kritik an der fachlichen Besetzung des Gremiums auf:
Denn unter den 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern findet sich nicht eine einzige Jurist:in. Dafür diverse renommierte Mediziner:innen, Epidemiolog:innen, Psycholog:innen und Virolog:innen. Darunter natürlich der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, aber auch der Leiter des Virologischen Instituts der Uniklinik Bonn, Hendrik Streeck. Geleitet wird die Runde vom Vorstandsvorsitzenden der Charité, Prof. Heyo K. Kroemer. Dem Pharmaologen zur Seite steht u. a. die Virologin Prof. Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Brinkmann gilt als Verfechterin harter bzw. besonders effektiver staatlicher Corona-Maßnahmen.
Doch selbst der von Scholz berufene kommunale Vertreter, Landrat Stefan Sternburg (SPD) aus Ludwigslust-Parchim, verfügt über keinerlei juristischen Hintergrund. Die Vermutung liegt also nahe: Rechtliche und damit v. a. auch verfassungsrechtliche Aspekte bei der Ausarbeitung von Corona-Maßnahmen dürften in dem 19er-Rat der Bundesregierung keine Rolle spielen. Gleichwohl zeigt sich Bundeskanzler Scholz davon überzeugt, dass seine Personalauswahl eine "breite Debatte" ermögliche, aus der dann, so Scholz, gemeinsame Empfehlungen wachsen könnten.
Staatsrechtler: "Törichte" und "hochmütige" Entscheidung der Bundesregierung
Eine "breite Debatte" ohne rechtliche Expertise - ausgerechnet, wenn es um Eingriffe in Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger geht?
Einige Staatsrechtler bringt das auf die Palme, etwa den renommierten Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ulrich Battis. Er kritisiert gegenüber LTO, es sei "äußerst töricht", im Gremium auf die Expertise von Juristinnen und Juristen zu verzichten – "erst recht nach den Äußerungen von Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery". Dieser hatte Richterinnen und Richter kürzlich für einige Entscheidungen zu Corona-Regeln kritisiert und als "kleine Richterlein" bezeichnet. Battis kann sich den Verzicht auf Jurist:innen im Expertenrat der Bundesregierung nur so erklären: "Vermutlich herrscht im Bundeskanzleramt der Hochmut, man verfüge selbst über hinreichende juristischen Sachverstand."
Ähnlich wie Battis reagiert auch die Juniorprofessorin Dr. Anika Klafki vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Uni Jena: Klafki findet es bedauerlich, dass juristische Expertise bei der Pandemiebekämpfung für "verzichtbar" gehalten wird. "Diese Entscheidung verkennt das gestalterische Potenzial der Rechtswissenschaft und übersieht, dass die Regelungsqualität die Effektivität der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen erheblich beeinflusst. Je verständlicher das Recht ist, desto eher wird es befolgt. Das geltende Regelungsdickicht aus Gesetzen, zeitlich befristeten Verordnungen und Allgemeinverfügungen ist für die Bürgerinnen und Bürger kaum noch zu durchdringen. Juristischer Sachverstand könnte hier Abhilfe schaffen und die Akzeptabilität der Corona-Politik beträchtlich erhöhen", so Klafki gegenüber LTO.
Andere von LTO befragte Verfassungsrechtler:innen hoffen, dass die juristische Prüfung der Vorschläge des Expertengremiums vor Umsetzung durch die Politik noch an anderer Stelle vorgenommen wird. Denn: "Bedarf an rechtlicher Beratung der Bundesregierung besteht in der Pandemiebewältigung ganz sicher an vielen Stellen", sagt die Flensburger Hochschullehrerin Prof. Dr. Anna Katharina Mangold. Mangold bezweifelt generell, dass Gremien wie der Expertenrat der Bundesregierung überhaupt in der Lage sind, der Politik Vorschläge für angemessene Pandemiemaßnahmen zu machen: "Die Pandemiemaßnahmen müssen aus multidisziplinärer Perspektive kritisch begleitet und evaluiert werden. Dass sich diese Vielstimmigkeit und Multiperspektivität überhaupt in einem einzigen Expertengremium einfangen lässt, ist zu bezweifeln." Anlass zur Sorge, so Mangold, gebe zudem, dass der Corona-Expertenrat nicht einer unter vielen sei, sondern "an herausgehobener und damit nicht zuletzt sehr symbolischer Stelle eingerichtet ist".
Verfassungsrechtliche Prüfung durch das BMJ?
Laut der Bochumer Staatsrechtlerin und ausgewiesene Expertin im Infektionsrecht, PD Dr. Andrea Kießling, wird das 19er-Gremium wohl eher in einer Vorstufe aktiv: Es liefere nur die naturwissenschaftlichen Fakten, während die Politik – auch unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben – dann auf dieser Grundlage entscheide. "Dann braucht man keine Jurist:innen in dem Expertengremium, juristische Expertise müsste dann erst im zweiten Schritt nachgefragt werden." Diese könne dann, so Kießling, auch vom Bundesjustizministerium kommen.
Ähnlich sieht es auch ihr Kollege Bayreuther Kollege, Prof. Dr. Stephan Rixen: "Der Bundeskanzler hat ein Expertengremium berufen, das primär naturwissenschaftlichen und medizinischen, außerdem auch psychologischen, verwaltungspraktischen und ethischen Sachverstand versammelt. Ich bin sicher, dass die nötige verfassungsrechtliche und sonstige rechtliche Expertise vor allem durch das Bundesjustiz-, das Bundesinnen- und das Bundesgesundheitsministerium eingebracht wird."
Der Berliner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Christoph Möllers gibt LTO gegenüber zu bedenken: "Es hätte zwei Varianten gegeben: Eine rein auf die Epidemie bezogene und eine wirklich interdisziplinäre. Hätte man Juristen hinzugezogen, hätte man auch Soziologinnen, Pädagogen etc. reinnehmen müssen."
FDP-Bundestags-Vize: "Falsches Signal"
Ähnlich wie unter den Universitätsjuristinnen und -juristen kritisieren auch Rechtspolitiker im Bundestag die Auswahlentscheidung von Olaf Scholz. Nicht nur Oppositionspolitiker äußern dabei ihre Sorge, dass der juristische Sachverstand im Pandemiegremium zu kurz kommt: "Es wäre sicher besser gewesen, zumindest einen Verfassungsjuristen in diesem Gremium sitzen zu haben, schließlich geht es bei nahezu allen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung auch um massive Einschränkungen der Grundrechte", sagt z.B. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, FDP-Politiker und Rechtsanwalt. Dass die verfassungsrechtliche Perspektive nicht im Expertenrat vertreten sei und das Grundgesetz dort somit keine 'Stimme' habe, könne als falsches Signal gedeutet werden, dass rechtliche Fragen nachrangig zu betrachten seien - was selbstverständlich hochproblematisch wäre, so Kubicki zu LTO.
Beim Ampel-Partner Bündnis 90/Die Grünen klingt die Kritik etwas verhaltener: "Der Bundeskanzler hat sich entschieden, dass Expertengremium ganz überwiegend mit Medizinerinnen und Medizinern und verwandten Professionen zu besetzen. Das führt aber dazu, dass andere für die Entscheidungen von Bund und Ländern relevante Sichtweisen unbedingt auf andere Weise einbezogen werden müssen", fordert der rechtspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Helge Limburg gegenüber LTO. Schließlich hätten die vergangenen anderthalb Jahre haben gezeigt, "dass die Corona-Schutzmaßnahmen nicht immer rechtssicher und vor allem verhältnismäßig und zielgerichtet ausgestaltet worden sind".
Dagegen sieht die rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Scholz` Parteifreundin Sonja Eichwede, keinen Anlass zur Sorge und verspricht: "Selbstverständlich werden die Empfehlungen des Gremiums juristisch durch Kanzleramt, Parlament und Rechtswissenschaften geprüft. Der ständige Austausch mit Verfassungsrechtlern ist sowohl in der Bundesregierung als auch im Parlament gegeben", so die Richterin zu LTO.
CDU/CSU: "Rechtswissenschaften unmittelbar miteinbeziehen"
Schärfer reagieren Vertreter:innen der Opposition auf die juristische "Lücke" im Corona-Expertenrat: Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Dr. Günter Krings, kritisiert im Gespräch mit LTO: "Dass zu den 19 Expertinnen und Experten weder ein Verfassungsjurist noch ein Gesundheitsrechtler gehört, stellt die Qualität der Beratung insgesamt in Frage." Durch den Verzicht auf juristischen Rat bringe man, so der Jurist, auch die Ethiker in diesem neuen Gremium in eine missliche Lage, "weil man von ihnen nicht erwarten kann, die juristische Beratungslücke aufzufangen."
Drastisch fällt auch die Bewertung der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union, Andrea Lindholz, gegenüber LTO aus: "Die neue Bundesregierung hat die Chance verpasst, ein wirklich interdisziplinäres Gremium mit bundesweiter Strahlkraft einzurichten. Wenn dieses Gremium rechtlich fundierte Vorschläge liefern soll, wäre es nur sinnvoll, auch die Rechtswissenschaften mit einigen renommierten Stimmen unmittelbar einzubeziehen". Nicht nachvollziehen kann die Rechtsanwältin zudem, dass das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) nicht einbezogen wurde. "Das BBK hatte schon 2012 in einer weitsichtigen Risikoanalyse auf die vielfältigen Gefahren einer Pandemie verursacht durch ein Coronavirus hingewiesen".
Bundesregierung: Gremium kann juristische Expertise einholen
Verhaltener als die Union reagiert die Linke: Laut ihrer Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Amira Mohamed Ali, sei die Einführung eines solchen Gremiums zwar grundsätzlich zu begrüßen, da es die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie mit einem breiteren Fachwissen begleitete. "Da sich auch in Zukunft auch weiterhin rechtliche Fragen, insbesondere verfassungsrechtliche, stellen werden, wäre es besser, dieses auch mit zumindest einer Juristin oder einem Juristen zu besetzen", so die Rechtsanwältin.
Dass das Gremium angesichts der Kritik um eine 20., juristisch ausgebildete Person aufgestockt wird, ist zu bezweifeln. Das Expertengremium soll politische Entscheidungen vorbereiten und begleiten, so ein Regierungssprecher zu LTO. Außerdem habe es die Möglichkeit, je nach Themengebiet weitere Expertise hinzuzuziehen. "Die Entscheidungen zur Einführung und Umsetzung von Maßnahmen der Pandemiebekämpfung werden in der Bundesregierung bzw. in den Parlamenten der Länder – und unter Einbeziehung einer juristischen Bewertung – getroffen", so der Sprecher.
Corona-Expertenrat der Bundesregierung ohne Juristen: . In: Legal Tribune Online, 05.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47124 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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