Wer den vor Lampedusa in Seenot geratenen Flüchtlingen hilft, macht sich wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung strafbar. Über diese Rechtslage in Italien kann man sich aufregen, in Deutschland sieht es aber nicht anders aus. Die Gesetze beruhen nämlich auf europäischem Recht und das ist auf Abschreckung ausgelegt. Eine Friedensnobelpreisträgerin sollte anders handeln, meint Joachim Kretschmer.
"Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes […] jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten." Diese seenotrechtliche Hilfspflicht finden wir in Art. 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen.
Nun heißt es in der Berichterstattung über die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, dass nach italienischem Recht seit 2002 die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot als Schleusertätigkeit strafbar ist. Die humanitäre Rettung als ein Fall der Hilfe zur illegalen Einwanderung. Über diese unmenschliche Rechtslage in Italien wird hierzulande geschimpft, aber wenn man auf Deutschland blickt, sieht das im Grundsatz nicht anders aus.
EU-Recht erlaubt Ausnahme für humanitäre Hilfe
Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, die Not, Hunger, Krieg oder Verfolgung entkommen wollen, steht auch bei uns unter Strafe. Das Einschleusen von Ausländern wird von den §§ 96 bis 97 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erfasst. Strafbar sind danach die Anstiftung und die Beihilfe zur Einreise ohne Aufenthaltstitel oder Pass und zum unerlaubten Aufenthalt, wenn daneben ein sogenanntes Schleusermerkmal vorliegt.
Schleusermerkmale sind etwa dann gegeben, wenn der Schleuser einen Vorteil erlangt oder wiederholt bzw. in mehreren Fällen tätig wird. Fehlt es an einem Schleusermerkmal, kann – humanitäre – Hilfe zur unerlaubten Einreise oder zum unerlaubten Aufenthalt als allgemeine Beihilfe nach § 95 AufenthG bestraft werden.
Diese Rechtslage in Deutschland sollte Bundesinnenminister Friedrich bedenken, bevor er reflexhaft nach einer härteren Bekämpfung der Schleuserkriminalität ruft.
Die Strafvorschriften gegen die Schleuserkriminalität sind maßgeblich durch das europäische Recht beeinflusst. Art. 83 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erwähnt als Kriminalitätsfelder, die einer europäischen Harmonisierung unterliegen, den eng mit der Schleuserkriminalität verbundenen Menschenhandel und die Organisierte Kriminalität.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Aufenthaltsrichtlinie (RL 2002/90/EG). Nach Art. 1 Abs. 2 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, keine Sanktionen zu verhängen, wenn es um humanitäre Hilfe geht. Der deutsche Gesetzgeber hat eine solche Humanitätsklausel nicht in das AufenthG aufgenommen. Das ist bedauerlich.
Seenotrettung darf nicht strafbar sein
Die Rechtslage in Italien ist nach der Medienberichterstattung vergleichbar, sie muss es wegen des auf diesem Feld harmonisierten Strafrechts auch sein. Wenn den überlebenden Flüchtlingen jetzt ein Strafverfahren wegen illegaler Einreise droht und den Fischern, die den Flüchtlingen in Seenot geholfen und viele gerettet haben, ein Strafverfahren wegen Beihilfe zur illegalen Einreise, scheint das formal in Ordnung zu sein. Zu beachten ist aber Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention, der den Flüchtlingen eventuell einen persönlichen Strafaufhebungsgrund gewährt.
Das wäre auch nach dem deutschen AufenthG nicht anders, wenn die Flüchtlinge über die Nordsee kämen. Das kann und darf aber nicht richtig sein, und ist es auch nicht. Humanitäres Handeln, das dazu dient, Flüchtlingen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen oder sie aus der Seenot zu retten, sind ein Gebot der Menschlichkeit. Es kann und darf vom Schutzbereich dieser Verbotsnormen nicht erfasst sein.
Aber eben nicht allein die Humanität verlangt Rettung und Hilfe. Auch das Recht steht auf der Seite der Retter. Das eingangs zitierte Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen zeigt die internationale Überzeugung der Weltgemeinschaft. Und auch das nationale Recht bringt mit § 323c Strafgesetzbuch mitmenschliche Solidarpflicht zum Ausdruck. Italien wird wohl eine vergleichbare Norm haben.
"Du sollst nicht bei der illegalen Einreise helfen", darf nicht heißen: "Du darfst nicht Leben retten". Der Strafrechtsdogmatiker findet die Lösung bereits im objektiven Tatbestand über den Weg der objektiven Zurechnung und dem eingeschränkten Schutzbereich der Strafvorschrift, der Praktiker mag den Weg des rechtfertigenden Notstandes gehen. Aber das Ergebnis bleibt: Seenotrettung schiffbrüchiger Flüchtlinge steht weder in Deutschland noch in Italien unter einem strafrechtlichen Verbot.
Eurosur ist eine Militarisierung der Grenzüberwachung
Repression und Abschottung verdrängen mitmenschliche Hilfe und Solidarität. Zuletzt hat sich das gezeigt, als das Europäische Parlament dem Grenzüberwachungssystem Eurosur zustimmte. In dem Verordnungsvorschlag heißt es in Art. 2 Abs. 1, dass Eurosur der Überwachung der Land- und Seeaußengrenzen der Mitgliedstaaten dienen soll. Dazu zählen auch Maßnahmen zum Beobachten, Aufspüren, Identifizieren, Verfolgen und Verhindern illegaler Grenzübertritte sowie Abfang- beziehungsweise Aufgriffsmaßnahmen.
Klingt kompliziert, klingt umfassend, aber die Zielrichtung ist eindeutig: Abschottung durch Überwachung und Verhinderung von Einwanderung und Flucht. Selbst Satelliten und bemannte und unbemannte Fluggeräte finden als Überwachungsinstrumente Erwähnung (Art. 12 Abs. 3). Ist es da beruhigend, wenn es in Art. 2 Abs. 3 wenigstens heißt, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Verordnung die Grundrechte achten und den besonderen Bedürfnissen von schutzbedürftigen Personen Vorrang einräumen?
Mag auch an anderen Stellen ein Hinweis auf Schutz und Rettung von Migranten erfolgen, im Vordergrund steht doch stets, illegale Migration zu verhindern und grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Insgesamt ist Eurosur eine Militarisierung der Grenzüberwachung und der Flüchtlingspolitik.
Schöne Worte, die sich nicht in den Gesetzen widerspiegeln
Die Kriminalisierung der Flüchtlinge und die – abschreckende – Strafdrohung für humanitäre Helfer, zu denen nicht allein italienische Fischer, sondern auch Ärzte, Sozialarbeiter, Sprachlehrer und andere sozial und humanitär engagierte Menschen in Europa zählen, ist nur ein Teil einer auf Abschottung und Repression gerichteten europäischen Flüchtlingspolitik.
Aber: Humanitäres Handeln, das der Lebensrettung oder einem menschenwürdigen Dasein dient, ist nicht Teil des Schlepperunwesens, des Menschenhandels oder der Organisierten Kriminalität, deren Bekämpfung die Schleusertatbestände der §§ 96 bis 97 AufenthG dienen. "Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die einer Minderheit angehören" – das sind nach Art. 1a des Vertrags über die Europäische Union (EUV) die Werte, auf die sich die Union gründet.
Schöne Worte, die sich nicht in ihren Taten und Gesetzen zeigen. Das ist eines Friedensnobelpreisträgers nicht würdig.
Der Autor Dr. Joachim Kretschmer ist Rechtsanwalt in Berlin und Privatdozent im Strafrecht mit einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Bremen. Neben vielfachen Publikationen ist ein Schwerpunkt seiner Forschung das Ausländerstrafrecht.
Joachim Kretschmer, Europäische Flüchtlingspolitik: Wie aus Rettern Schleuser werden . In: Legal Tribune Online, 15.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9805/ (abgerufen am: 04.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag