Polnische Bauarbeiter dürfen ihre Lohnansprüche an eine finnische Gewerkschaft abtreten und für sich einklagen lassen. Außerdem können allgemeinverbindliche Tarifverträge den Mindestlohn definieren. Mit diesem Urteil beginnt der EuGH, im Bereich des Mindestlohns eine wichtige Rolle zu spielen. Welche Relevanz die Entscheidung für Deutschland haben könnte, kommentiert Wolfgang Däubler.
Eine polnische Firma hatte 186 nach polnischem Recht bei ihr beschäftigte Arbeitnehmer nach Finnland entsandt, wo sie Elektroarbeiten beim Bau eines Kernkraftwerks verrichteten.
Sie waren der Auffassung, dass ihre Vergütung unter dem finnischen Mindestlohn lag und traten ihre Ansprüche an eine finnische Gewerkschaft ab, die sie einklagte.
Die Arbeitnehmervertreter trugen vor, dass die Tarifverträge eine Berechnung des Mindestlohns der Arbeitnehmer nach für diese günstigeren Kriterien als den von der polnischen Firma angewandten vorsähen.
Das mit der Sache befasste finnische Gericht legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einige Fragen vor – auf die zahlreichen Probleme fand der Gerichtshof vergleichsweise präzise Antworten (Urt. v. 12.02.2015, C-396/13; Sähköalojen ammattiliitto). Mit diesem Urteil beginnt er, im Bereich des Mindestlohns eine wichtige Rolle zu spielen.
Mindestlohn wird nach einheitlichem Recht behandelt
Zunächst ging es um die Frage, ob die Lohnansprüche überhaupt abgetreten werden konnten: Das finnische Recht lässt dies zu, nicht aber das polnische. Konkret hatte der EuGH über die Frage zu entscheiden, ob das in der Charta der Grundrechte verankerte Recht auf wirksamen Rechtsschutz es verbietet, dass das polnische Abtretungsverbot die Gewerkschaft daran hindern kann, bei einem finnischen Gericht eine Klage zu erheben, um die abgetretenen Lohnforderungen der entsandten Arbeitnehmer einzuziehen.
Nach Auffassung des EuGH war insoweit finnisches Recht maßgebend. Aus der Entsenderichtlinie ergebe sich eindeutig, dass zu den "Mindestlohnsätzen" des Aufnahmestaats, die bei einer Entsendung zu beachten sind, alle Fragen gehören, die mit dem Mindestlohn zusammen hängen. Soweit dieser nach Ortsrecht abtretbar ist, spielt das an sich auf die Arbeitsverträge anwendbare polnische Recht keine Rolle mehr. Dies hatte der EuGH bisher – soweit ersichtlich – nicht oder allenfalls am Rande in anderen Entscheidungen erörtert.
Nun weiß man im Grundsatz, wie weit der sachliche Anwendungsbereich der Mindestlohnsätze als eine sogenannte Eingriffsnorm reicht. Dies ist ein Zuwachs an Rechtssicherheit und außerdem ein vernünftiges Ergebnis, weil das Phänomen Mindestlohn nicht auseinander gerissen, sondern nach einem einheitlichen Recht behandelt wird.
Allgemeinverbindliche Tarifverträge können Mindestlohn definieren
Die finnischen* Richter wollten ferner wissen, ob nach der Entsenderichtlinie (Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) der Begriff der "Mindestlohnsätze" bestimmte Lohnbestandteile umfasst, wie sie in einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag definiert sind.
Diese Definition des Mindestlohns durch Tarifverträge, die für allgemeinverbindlich erklärt worden waren, hält der EuGH für möglich. Der Qualifizierung als Mindestlohn steht auch die "Einteilung der Arbeitnehmer in Lohngruppen" nicht entgegen, sofern diese nach zwingenden und transparenten Vorschriften vorgenommen wird.
Lohntarif kann auf alle entsandten Arbeitnehmer erstreckt werden
Dies kann auch für Deutschland große Bedeutung erlangen, da die bisherige Praxis immer nur "Mindestlohntarife" für allgemeinverbindlich erklärte, nicht aber das gesamte "Tarifgitter" mit allen Vergütungsgruppen.
Die Argumentation des EuGH impliziert, dass man dies in Zukunft auch anders machen kann, indem man den gesamten Lohntarif mit allen seinen Vergütungsgruppen auf die entsandten Arbeitnehmer erstreckt.
Wie man den (tariflichen) Mindestlohn berechnet, welche Zahlungen und Sachleistungen man dabei einrechnet, ist im Moment eine in Deutschland viel erörterte Frage. Der EuGH kann hier weiterhelfen: Ein Tagegeld, das nicht an den tatsächlichen Aufwand gekoppelt ist, sowie eine Zahlung für die tägliche Pendelzeit ist einzurechnen. Erhält der Arbeitnehmer aber Unterkunft und Essensgutscheine, welche die höheren Lebenshaltungskosten im Einsatzland ausgleichen sollen, ist dies bei der Berechnung des Mindestlohns nicht zu berücksichtigen.
Zwar bezieht sich die Entscheidung aus Luxemburg nur auf Regeln in finnischen Tarifverträgen, doch liegt es nahe, für den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland Entsprechendes anzunehmen. Auch dies ist eine wichtige Anregung für die deutsche Praxis, die einigen Wirbel verursachen wird.
Der Autor Wolfgang Däubler ist Professor i. R. für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, insbesondere zum Arbeitsrecht und zum Datenschutz. Tätigkeit als Vorsitzender von Einigungsstellen und als Berater bei arbeitsrechtlichen Reformvorhaben im Ausland.
*geändert um 14.18 Uhr. Zuvor stand hier fälschlicherweise "polnische Richter".
EuGH zu entsandten Arbeitnehmern: . In: Legal Tribune Online, 13.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14686 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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