Nach dem "Stechuhr-Urteil" des EuGH wird kontrovers diskutiert, welche Folgen sich für das Arbeitsleben ergeben. Verbände warnen vor einer "Zeitreise in die Vergangenheit". Zeit für eine unaufgeregte Einschätzung. Von Michael Fuhlrott.
Mit seinem Urteil über die Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Hiernach sind Arbeitgeber verpflichtet, in Befolgung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG verlässliche Systeme zu schaffen, mit denen die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann.
Ohne solche Vorkehrungen könne weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung, noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden. Da der Arbeitnehmer aber der strukturell unterlegene Part im Arbeitsverhältnis sei, müsse dies zu dessen Schutz aber gewährleistet sein, so die Luxemburger Richter.
Mittelstand warnt vor 1:1 Umsetzung
Diesem Urteil wurde nicht nur von Arbeitsrechtlern Aufmerksamkeit geschenkt, vielmehr wurden auch Berufsverbände, Gewerkschaften und die Politik auf den Plan gerufen. Von einer "Zeitreise in die Vergangenheit" bis hin zu keinem wirklichen Handlungsbedarf für die Situation deutscher Arbeitgeber reichten die Äußerungen.
In einer aktuellen Pressemeldung warnt etwa der Verband der Familienunternehmer, der die Interessen von rund 180.000 Mitgliedsunternehmen mit rund 8 Millionen Beschäftigten in Deutschland vertritt, vor einer 1:1 Umsetzung der Entscheidung. Nach dessen Leiter für den Bereich Politik und Wirtschaft, Peer Robin Paulus, stelle das Urteil eine "Zeitreise in die Vergangenheit" dar und passe nicht in die Arbeitswelt von heute. Eine Umsetzung in deutsches Recht "würde alles auf den Kopf stellen, was ein modernes Unternehmen mit seinen Mitarbeitern machen sollte."
Umsetzung des EuGH Urteils ist alternativlos
Zunächst gilt: Das Urteil des EuGH ist in der Welt. Der EuGH ist dazu berufen, unbestimmte Rechtsbegriffe und Auslegungsspielräume der Arbeitszeitrichtlinie auszufüllen. Seine Interpretation bindet die jeweiligen nationalen Gesetzgeber. Zudem stützt der EuGH seine Argumentation nicht nur auf die Arbeitszeitrichtlinie, sondern beruft sich überdies auch auf die Grundrechtecharta (GRCh).
Deren Artikel 31 Abs. 1 garantiert den Arbeitnehmern "gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen", wobei Art. 31 Abs. 2 GRCh sodann noch genauer wird und den Arbeitnehmern ein "Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten" zuspricht. Insoweit besteht kein Spielraum für den deutschen Gesetzgeber, eine klare Vorgabe des EuGH umzusetzen oder aber – wenn sie womöglich als unpassend angesehen wird – dies nicht zu tun. Die Umsetzung der Vorgaben des EuGH ist damit – um einen Begriff der Politik zu bemühen – alternativlos.
Spielräume und gestalterische Stellschrauben
Richtigerweise ist der Ansatzpunkt daher nicht, ob das Urteil umgesetzt werden sollte, sondern vielmehr welche Spielräume dem nationalen Gesetzgeber bleiben. Hier ergeben sich aus dem Urteil bereits verschiedene Möglichkeiten:
So trifft das Urteil keine Aussage dazu, wer die Arbeitszeit erfassen muss. Vielmehr führt der EuGH explizit aus, dass den Mitgliedsstaaten bei den Modalitäten, insbesondere der Form des Systems zur Arbeitszeiterfassung, ein Spielraum eröffnet sei. Es findet sich auch keine entgegenstehende Formulierung dazu, dass die Dokumentation nicht durch den Arbeitnehmer selbst erfolgen kann. Sie muss nur systematisch erfolgen, so dass die Zeiten wohl in ein Erfassungssystem einzupflegen sind, in das der Arbeitnehmer Einsicht nehmen kann.
Die zugrunde liegende Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88/EG sieht in Art. 17 Abs. 1 bereits selbst für bestimmte Personen- bzw. Tätigkeitsgruppen vor, dass von den Richtlinienvorgaben abgewichen werden kann. Für leitende Angestellte ist dies z.B. bereits derzeit der Fall, für diese gilt das deutsche Arbeitszeitrecht ohnehin nicht, § 18 Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Auch hieran wird sich nichts ändern. Der EuGH stellt in seinem Urteil überdies ausdrücklich fest, dass Ausnahmen von der allgemeinen Pflicht zur Arbeitszeiterfassung unter bestimmten Voraussetzungen denkbar sind. Hierzu nennt er als zu berücksichtigende Besonderheiten z.B. die jeweiligen Tätigkeitsbereiche der Unternehmen oder die Eigenheiten bestimmter Unternehmen, wie z. B. deren Größe.
Der deutsche Gesetzgeber hat daher bei einer Anpassung des Arbeitszeitgesetzes die Möglichkeit, insbesondere mittelständische Unternehmen, für die eine weitere Dokumentation der Arbeitszeit eine besondere Belastung darstellt, von der entsprechenden Pflicht auszunehmen. Welche Größenordnung man hier als sinnvoll ansieht, ist der Politik überlassen. Folgt man der Argumentation des EuGH, wonach ein Schutz kleinerer Unternehmen vor nicht leistbarem administrativen Aufwand intendiert ist, bieten sich entsprechende "Überforderungsgrenzen" an, die der Gesetzgeber im Arbeitsrecht auch an anderer Stelle vorsieht.
So kann die seit 1. Januar 2019 eingeführte Brückenteilzeit erst dann beansprucht werden, wenn mehr als 45 Arbeitnehmer beschäftigt werden. Eine solche Grenze könnte sich daher als Diskussionsgrundlage eignen. Ausnahmen von der Arbeitszeiterfassung im Sinne einer vollständigen Herausnahme von der Verpflichtung könnten auch für bestimmte Brachen gelten, bei denen z.B. aufgrund mobiler Arbeitsorte eine derartige Arbeitszeiterfassung schlicht nicht bzw. nur unter erheblichem Aufwand leistbar ist.
Modifikationen ja, aber kein Umbruch im Arbeitszeitrecht
Was folgt damit insgesamt aus dem "Stechuhr-Urteil": Eine moderate Anpassung des deutschen Arbeitszeitrechts wird wohl notwendig, aber auch ausreichend sein. Vertrauensarbeitszeit, wonach Arbeitnehmer selbstbestimmt ihre eigene Arbeitszeit selbst erfassen, wird weiterhin möglich sein. Versteht man unter Vertrauensarbeitszeit hingegen Systeme, bei denen Arbeitnehmer täglich 12 Stunden oder mehr arbeiten und diese Zeiten aber mangels Erfassung nicht auffallen, so wird diese Handhabe nicht mehr möglich sein. Sie war aber auch bereits nach bisherigem Arbeitszeitrecht unzulässig. Es fiel bloß niemandem auf.
Die Gesetzeslage ändert sich durch das Urteil nicht. Insoweit ist der Kern der Kritik am Urteil eine Kritik am zugegebenermaßen restriktiven Arbeitszeitrecht. Dies kann und sollte man zurecht in Zeiten der Arbeitswelt 4.0 und sowohl arbeitgeber-, als auch arbeitnehmerseitig geäußerten Wünschen nach Arbeitszeitflexibilität kontrovers diskutieren.
Mit Material von dpa
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM – Fuhlrott Hiéramente & von der Meden Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB - sowie Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius in Hamburg.
Unsicherheit nach EuGH-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 04.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35739 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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