Inhaltlich hat der EuGH zwar zum verbindlichen Preisrahmen in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) entschieden. Überraschend sind dabei jedoch seine Aussagen zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, findet Heiko Fuchs.
Das Unionsrecht steht HOAI-Mindestsatzklagen nicht entgegen. Das hat am Dienstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden (Urt. v. 18. Januar 2022, Rs. C-261/20). Weder die Dienstleistungsrichtlinie noch sein früheres Vertragsverletzungsurteil kollidierten mit der Anwendung des verbindlichen Preisrahmens der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Dieses Urteil, das auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs (BGH) zurückgeht, wird noch für viel Gesprächsstoff auch jenseits des Architektenrechts sorgen. Denn es standen nichts Geringeres als das Verhältnis von (sekundärem) Unionsrecht zum nationalen Recht der Mitgliedsstaaten und die Folgen eines Vertragsverletzungsurteils des EuGH auf dem Prüfstand.
Hintergrund des Urteils ist, dass seit 1976 für Leistungen der Architekt:innen und Ingenieur:innen der verbindliche Preisrahmen aus Mindest- und Höchstsatz nach der entsprechenden Fassung der Honorarordnung HOAI gilt. Vergütungsvereinbarungen außerhalb diesen Rahmens waren wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig und es galt stattdessen der objektiv zutreffend ermittelte Mindest- bzw. Höchstsatz. Das führte in der Praxis insbesondere zu zahllosen sog. "Aufstockungsklagen", mit denen Planer:innen abweichend vom Vertrag den höheren Mindestsatz geltend gemacht haben.
Am 14. Juli 2019 hat der EuGH in einem von der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Az. C-377/17) festgestellt, dass der verbindliche Preisrahmen der HOAI gegen die bis zum 28. Dezember 2009 in nationales Recht umzusetzende Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG) verstößt. Der nationale Gesetz- bzw. Verordnungsgeber als primärer Adressat von Richtlinie und Urteil hat mit der HOAI 2021 für Architekten- und Ingenieurverträge, die nach dem 01. Januar 2021 geschlossen werden, den harten Preisrahmen abgeschafft.
Was bis zu diesem Zeitpunkt im Anwendungsbereich der HOAI 2013 bzw. ihrer Vorgängerfassungen gilt, war aber bis zuletzt hoch umstritten, so dass der BGH in einem Aufstockungsklageverfahren am 14.Mai 2020 (Az. VII ZR 174/19) erneut den EuGH anrief.
EuGH stärkt nationales Recht
Dem erteilt der EuGH nunmehr eine Absage. Es gelte der Grundsatz, dass sich eine Richtlinie der Europäischen Union, anders als die nur in wenigen Fällen zulässige Verordnung, nur an den Mitgliedsstaat richte und dem Einzelnen keine Verpflichtungen auferlegen könne. Seine in zahlreichen früheren Verfahren aufgestellten Ausnahmen finden in den Urteilsgründen demgegenüber keine Erwähnung.
Auch das Vertragsverletzungsurteil richte sich an die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedsstaat und diene nicht der Verleihung von Rechten an Einzelne. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei Schadensersatz von dem Mitgliedsstaat verlangen könne. Damit drängt der EuGH die Bedeutung des Unionsrechts und auch seiner Rechtsprechung im Verhältnis zum nationalen Recht deutlich zurück. Nicht Gerichte und sonstige Rechtsanwender, sondern die Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten sind zumindest für Rechtsbeziehungen zwischen Privaten berufen, Unionsrechtsverletzungen im nationalen Recht abzustellen. Auch versucht der EuGH, die mitunter verschwimmende Unterscheidbarkeit zwischen Richtlinien und Verordnungen wieder stärker zu betonen.
EuGH erwähnt seine eigenen Ausnahmen nicht
Enttäuschend ist, dass der EuGH die sowohl vom BGH im Vorlagebeschluss als auch durch den Generalanwalt in seinen Schlussanträgen herausgearbeiteten Ausnahmen von dem Verbot der horizontalen Anwendung von Richtlinien nicht anspricht, die er selbst entwickelt hat. Immerhin konkretisiert die Richtlinie die im primären Unionsrecht in Art. 49 AEUV als Teil der Grundfreiheiten geregelte Niederlassungsfreiheit.
Konkretisiert eine Richtlinie einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, so der EuGH früher, könne dies durchaus zu einer unmittelbaren Anwendung zwischen Privaten führen. Die darauf zielenden ergänzenden Vorlagefragen des BGH kanzelt der EuGH als unzulässig ab, da keine grenzüberschreitenden Sachverhalte vorgetragen seien. Er vermeidet so eine bereits im Vertragsverletzungsurteil fehlende Klarstellung dahingehend, ob die Mindest- und Höchstsätze der HOAI nicht nur gegen die Dienstleistungsrichtlinie, sondern auch gegen die durch sie konkretisierte Niederlassungsfreiheit selbst verstößt. Ansonsten neigt der EuGH durchaus dazu, Fragen nationaler Gerichte extensiv zu beantworten, wenn sich daraus eine Möglichkeit ergibt, unionsweite Rechtssicherheit zu schaffen.
Ebenfalls Stirnrunzeln verursacht der Versuch, die Verantwortung wieder auf die nationalen Gerichte zu verlagern. Laut EuGH könnten diese - sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde - unbeschadet des Unionsrechts die Anwendung jeder Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstoße, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen. Dabei hat er selbst erkannt, dass der BGH im Vorlagebeschluss die unionsrechtskonforme Auslegung des § 7 HOAI kategorisch ausgeschlossen hat - und dies sicher genauso im nun anstehenden Revisionsurteil tun wird.
Hunderte Aufstockungsklagen müssen nun entschieden werden
Die Auswirkungen der Antworten des EuGH auf das Verfahren vor dem BGH sind aber klar: Der klagende Ingenieur kann abweichend vom Vertrag den Mindestsatz verlangen, die Revision des Auftraggebers wird zurückzuweisen sein. Hunderte ruhend gestellte oder mit Blick auf die unsichere Rechtslage noch nicht erhobene Aufstockungsklagen stehen jetzt zur Entscheidung vor den deutschen Gerichten an. Dies betrifft alle bis zum Inkrafttreten der HOAI 2021 am 1. Januar 2021 geschlossenen Architekten- und Ingenieurverträge und damit auch alle bis dahin geltenden Fassungen der HOAI.
Streng genommen ist im entsprechenden Zeitraum auch der Höchstsatz weiter verbindlich, der jedoch ohnehin noch nie viel Praxisrelevanz hatte. Demgegenüber sollten sich Auftraggeber nicht auf einfache Schadensersatzklagen gegen den Staat einstellen. Schon jetzt ist umstritten, ob als Schaden tatsächlich das Delta zwischen vereinbartem Honorar und Mindestsatz nach HOAI oder – wohl eher - lediglich frustriert aufgewandte Prozesskosten in Betracht kommen.
Differenziert betrachten muss man die Rechtslage bei öffentlichen Auftraggebern. Diese durften – bislang unstreitig – das Preisrecht seit dem Vertragsverletzungsurteil nicht mehr anwenden, weder durch Ausschluss eines unter den Mindestsätzen liegenden Angebots von Planenden im Vergabeverfahren noch durch Berufung auf eine Höchstsatzüberschreitung durch das vereinbarte Honorar. Aufstockungsklagen gegen die öffentliche Hand sollten aber weiter möglich sein, da sich in diesen Fällen nicht der oder die Bürger:in gegenüber dem untätigen Staat im Unter-/Überordnungsverhältnis auf den Unionsrechtsverstoß beruft (sog. vertikale unmittelbare Wirkung), sondern auf das auch in diesem Verhältnis weiter anwendbaren nationalen Recht der HOAI.
Da die vertikale und horizontale unmittelbare Wirkung von Richtlinien und damit das Verhältnis von Unionsrecht zu dem widersprechenden nationalen Recht zum Examensstoff zählen, lohnt auch in der Lehre ein genauerer Blick auf dieses jüngste Urteil des EuGH.
Prof. Dr. Heiko Fuchs ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht und Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
EuGH zu HOAI-Mindestsatzklagen: . In: Legal Tribune Online, 18.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47243 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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