Schluss mit unbegründetem Wettbewerbsverbot und unkalkulierbaren Arbeitszeiten? Eine EU-Neuregelung zu verlässlicheren Arbeitsbedingungen hat auch auf Deutschland Auswirkungen, allerdings überschaubare, erklärt Alexander Willemsen.
Das Europäische Parlament hat eine "Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen in der EU" beschlossen, die die bisher geltende Nachweisrichtlinie (Richtlinie 91/533/EWG vom 14.10.1991) ablöst. Der Rat der EU hat der Neuregelung vergangene Woche zugestimmt. Mit ihr, so die Auffassung des Verhandlungsführers der EU-Abgeordneten, Enrique Calvet Chambon, sei dem Parlament ein großer Wurf gelungen: "Diese Richtlinie ist der erste große Schritt zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, die alle EU-Arbeitnehmer betrifft. Allen Arbeitnehmern, deren rechtliche Situation bisher unklar war, werden dank dieser Richtlinie und der Urteile des Europäischen Gerichtshofs nun Mindestrechte eingeräumt, denn von nun an wird kein Arbeitgeber mehr in der Lage sein, die Flexibilität des Arbeitsmarktes zu missbrauchen."
Dies ist womöglich etwas zu hoch gegriffen, zielt das Maßnahmenpaket, das in der Richtlinie enthalten ist, doch in erster Linie auf die so genannte Gig Economy. Das ist der Teil des Arbeitsmarktes, bei dem kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Selbständige, Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte ("Crowd- bzw. Clickworking") vergeben werden. Allerdings werden die neuen Regelungen auch außerhalb des – bislang noch kleinen – Bereichs der Gig Economy Anpassungsbedarf mit sich bringen.
Kürzere Fristen für Arbeitgeber
Die Regelungen der bisherigen Nachweisrichtlinie, sind in Deutschland mit dem Nachweisgesetz (NachwG) in nationales Recht umgesetzt. In diesem Gesetz ist festgelegt, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die wesentlichen Bedingungen für ein Arbeitsverhältnis schriftlich mitzuteilen hat – das gilt für alle Arbeitsverhältnisse. Meist ist dieser Pflicht allerdings mit regulären Arbeitsverträgen genüge getan. Ohnehin besteht der Arbeitsvertrag auch ohne den erforderlichen Nachweis; der Arbeitgeber gerät allerdings in Verzug, wenn er die gesetzlichen Fristen nicht einhält.
Durch die neue Richtlinie werden die Regelungen im NachwG nur punktuell ergänzt. Neu ist, dass der Nachweis der wesentlichen Arbeitsbedingungen nicht wie bisher innerhalb von einem Monat nach Beschäftigungsbeginn, sondern künftig grundsätzlich innerhalb von einer Woche zu erbringen ist. Für bestimmte Arbeitsbedingungen, etwa den Urlaubsanspruch und die anwendbaren Kollektiv- und Tarifverträge, gilt eine verlängerte Frist von bis zu einem Monat.
Der Katalog der zu dokumentierenden Arbeitsbedingungen ist im Wesentlichen gleichgeblieben. Die Auflistung ist unter anderem um Angaben zur Probezeit, zu Ansprüchen auf vom Arbeitgeber bereitgestellte Fortbildung und besondere Angaben bei Abrufarbeitsverhältnissen (s. u.) ergänzt worden.
Die neuen Regelungen lassen sich relativ problemlos ist das bestehende NachwG einpflegen. Der Katalog der nachzuweisenden Arbeitsbedingungen (§ 2 Abs. 1 S. 2 NachwG) muss erweitert und die Frist (§ 2 Abs. 1 S. 1 NachwG) entsprechend gekürzt werden.
Die Erweiterung des Katalogs dürfte für die Praxis kaum Konsequenzen haben, weil die neu aufgenommenen Angaben, z. B. zur Probezeit, ohnehin in den meisten Arbeitsverträgen enthalten sind. Lediglich Angaben zu den vom Arbeitgeber bereitgestellten Fortbildungsmöglichkeiten fehlen häufig in Arbeitsverträgen, so dass sich die Praxis – wie auch auf die verkürzte Frist zur Dokumentation – hierauf einstellen muss.
Arbeit auf Abruf
Das politische Ziel der neuen Richtlinie ist es, das Schutzniveau für Arbeitnehmer insbesondere im Bereich der Gig Economy und der dort verbreiteten variablen Arbeitszeitgestaltung zu erhöhen. Denn dort stehen Beschäftigte regelmäßig auf Abruf für die Erbringung der Arbeitsleistung zur Verfügung.
Dieses Ziel wird mit verschiedenen neuen Regelungen bei der Arbeit auf Abruf umgesetzt: Künftig sind ausdrückliche Regelungen zu dem zeitlichen Korridor der Arbeitszeit oder den geltenden Ankündigungsfristen zu vereinbaren (und zu dokumentieren), wenn die jeweiligen Einsatzzeiten völlig oder größtenteils unvorhersehbar sind. Fehlen entsprechende Regelungen, kann der Arbeitnehmer die Einteilung zur Arbeitsleistung ablehnen, ohne dass ihm hieraus Nachteile erwachsen dürfen. Umgekehrt soll im Falle kurzfristiger Stornierungen eine Entschädigung vorgesehen werden.
Des Weiteren sollen die Mitgliedstaaten Regelungen treffen, um die missbräuchliche Gestaltung von Abrufverträgen oder ähnlichen Arbeitsverträgen zu unterbinden. Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen zählt, dass eine widerlegbare Vermutung aufgestellt werden kann, wonach ein Arbeitsvertrag mit einem garantierten Mindestumfang bezahlter Stunden ausgehend von den in einem bestimmten Zeitraum durchschnittlich geleisteten Stunden vorliegt.
Abgesehen von den erweiterten Dokumentationspflichten werden die neuen Mindeststandards, die die Richtlinie im Bereich der Arbeit auf Abruf aufstellt, voraussichtlich keinen Handlungsbedarf des nationalen Gesetzgebers auslösen: § 12 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) formuliert bereits heute Anforderungen an die Arbeit auf Abruf, die die Anforderungen der neuen Richtlinie erfüllen oder sogar darüber hinausgehen. Jedenfalls hierzulande wird sich die Gig Economy allenfalls auf erhöhte Dokumentationspflichten, nicht jedoch auf grundlegend neue Spielregeln einstellen müssen.
Wenn Fortbildungspflicht, dann Dokumentationspflicht
Neu ist die Pflicht zur Aufnahme der vom Arbeitgeber bereitgestellten Fortbildung in den Katalog der zu dokumentierenden Arbeitsbedingungen, soweit der Arbeitgeber verpflichtet ist, Arbeitnehmern in Hinblick auf die ausgeübte Tätigkeit Fortbildungen anzubieten. Unter diesen Voraussetzungen sieht die Richtlinie vor, dass solche Fortbildungsmaßnahmen kostenlos angeboten, als Arbeitszeit angerechnet und möglichst während der Arbeitszeiten stattfinden müssen.
Die Vermutungen einiger Beobachter des Gesetzgebungsverfahrens, der europäische Gesetzgeber könne eine Verpflichtung zu kostenlosen weiteren Fortbildungsmaßnahmen in die Richtlinie aufnehmen, haben sich nicht bewahrheitet. Auch deshalb bleibt der Anpassungsbedarf in diesem Bereich überschaubar. Fortbildungsmaßnahmen werden bereits nach geltender nationaler Rechtslage in der Regel kostenlos und während der Arbeitszeit angeboten.
Mehrfachbeschäftigungen und Wettbewerbsverbote
Die neue Richtlinie umfasst auch Regelungen zur Mehrfachbeschäftigung, also die Tätigkeit für mehrere verschiedene Arbeitgeber. Grundsätzlich darf ein Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nicht verbieten, eine anderweitige Beschäftigung aufzunehmen, oder ihn benachteiligen, falls er dies tut. Der deutsche Gesetzgeber darf allerdings regeln, dass die Arbeitgeber aus objektiven Gründen Unvereinbarkeitsbestimmungen anwenden können, etwa aus Gründen der Gesundheit und der Sicherheit, zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen, der Integrität des öffentlichen Dienstes oder zur Vermeidung von Interessenkonflikten.
Es ist noch unklar, welche Auswirkungen die Umsetzung dieser Vorgaben auf das allgemeine arbeitsvertragliche Wettbewerbsverbot nach deutschem Recht hat. Danach ist es einem Arbeitnehmer auch ohne ausdrückliche vertragliche Regelung grundsätzlich untersagt, für einen Wettbewerber tätig zu werden. Es wird sich zeigen müssen, ob die neue Richtlinie hier z. B. zu einer Verengung des Anwendungsbereiches führt und eine parallele Beschäftigung beim Wettbewerber künftig nur noch bei objektiv erkennbaren Interessenkonflikten untersagt werden darf.
Probezeit im Verhältnis zur Vertragslaufzeit
Die von der Richtlinie festgelegte Höchstdauer der Probezeit von sechs Monaten wird keinen Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber verursachen: Bereits nach der aktuellen Gesetzeslage hinsichtlich der kürzeren Kündigungsfrist (vgl. § 622 Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und der Unanwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (vgl. § 1 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) gilt diese Höchstgrenze.
Neu ist allerdings die Anforderung, dass die Dauer der Probezeit bei befristeten Anstellungsverträgen im Verhältnis zur Vertragslaufzeit und Art der Tätigkeit stehen muss. Eine entsprechende Einschränkung ist nach deutschem Recht bislang nicht vorgesehen und kann – insbesondere bei mangelhafter Umsetzung in nationales Recht – dazu führen, dass Probezeitkündigungen gerade bei befristeten Anstellungsverhältnisses künftig einer entsprechenden Kontrolle unterliegen.
Die neue Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen enthält somit ein Maßnahmenpaket, das den deutschen Gesetzgeber nur punktuell zum Handeln zwingt. Dies ist allerdings dem Umstand geschuldet, dass das deutsche Arbeitsrecht die von der Richtlinie vorgegebenen Mindeststandards in der Regel ohnehin erfüllt. Der praktische Umsetzungsbedarf bleibt deshalb überschaubar. Ohnehin haben die Mitgliedstaaten bis 2022 Zeit, die Vorgaben dieser Richtlinie umzusetzen. Damit hat das Gesetzgebungsverfahren, das insbesondere auf die Beseitigung von Missständen bei der Gig Economy abzielt, insgesamt gut fünf Jahre in Anspruch genommen – was verdeutlicht, wie groß der Vorsprung der neuen, agilen Arbeitsformen der Crowd- und Clickworker auf die behäbige Arbeitsgesetzgebung ist.
Der Autor Dr. Alexander Willemsen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
EU-Richtlinie zu transparenten Arbeitsbedingungen: . In: Legal Tribune Online, 20.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35999 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag