Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien haben sich mit Ideen für ein EU-Asylsystem an die EU-Kommission gewandt. Der Inhalt ist aber vornehmlich eine Absage an das gemeinsame Projekt, meint Constantin Hruschka.
Im Kontext des von der EU-Kommission angekündigten neuen Migrations- und Asylpaktes haben die Innenminister Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens in einem Schreiben vom 9. April 2020 Grundlinien ihrer Reformideen an die EU-Kommission übermittelt. Adressiert war das Schreiben an den Vize-Präsidenten Margarits Schinas, der die Arbeiten der EU-Kommission am neuen Pakt zu Migration und Asyl koordiniert, und an die inhaltlich zuständige Innenkommissarin YlvaJohannson.
Die Grundlinien bewegen sich in dem Fahrwasser, dass bereits seit Anfang 2016 die Asylpolitik in der EU prägt: Die Ambitionen sind groß, es geht um nichts Geringeres als "ein faires, effizientes, widerstandsfähiges und vor allem funktionierendes Gemeinsames Asylsystem", das helfen soll "Migration zu bewältigen und zu steuern".
Allerdings skizziert das Schreiben dann kein "Gemeinsames Asylsystem", sondern legt sich mit dem Vorschlag auf ein Nebeneinander der nationalen Asylsysteme fest, dass gerade nicht gemeinsam sein soll, sondern vor allem die Verantwortung anders verteilt als bisher. Das ist aus Sicht der vier nun initiativen Staaten, die im Jahr 2019 etwa 70 Prozent aller Asylanträge in der EU entgegengenommen haben, verständlich. Ein Gemeinsames Asylsystem macht das aber noch nicht aus. Das Schreiben kann also im Ringen um eine Asylpolitik auch als Absage an eine vertiefte Europäisierung gelesen werden. Die darin eingeforderte "Solidarität" bezieht sich im Wesentlichen auf die Verteilung von Lasten, die Hilfe in Ausnahmesituationen und die Seenotrettung.
Weniger Asylreform als Änderung des Dublin-Systems
Es geht den vier Staaten in ihrem Schreiben also im Kern um schnellere und besser funktionierende Verteilung der Schutzsuchenden. Hinzu kommen weitere Teilaspekte wie die Unterstützung sog. besonders belasteter Mitgliedstaaten, die weitere Auslagerung von Verantwortung für den Flüchtlingsschutz, der mit der Agenda für Migration 2015 eingeleiteten Fokus auf nicht schutzbedürftige Personen und die Verhinderung von Sekundärmigration, die als zentrales Problem bezeichnet wird. Letztlich handelt es sich also nicht um eine Asylreform, sondern um eine Änderung des Dublin-Systems, mit dem die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Asylverfahren festgelegt wird.
Dementsprechend sind die Vorschläge vor allem insoweit interessant, als sich die vier Innenministerien auf eine Abkehr vom Prinzip der Verantwortung des Staates, der für Einreise und Aufenthalt verantwortlich ist, geeinigt haben. Dieses Prinzip, dass unter anderem beinhaltet, dass bei einer irregulären Einreise über die Außengrenze der Staat zuständig wird, in dem die schutzsuchende Person erstmals europäischen Boden betreten, hat sich in der Praxis kaum ausgewirkt, da Rücküberstellungen in die Ankunftsländer wie Griechenland und Italien oft rechtlich oder praktisch nicht möglich waren. Daher haben sich die Reformbemühungen der Staaten ohne Außengrenze lange Zeit auf das Verhindern der Weiterwanderung von Asylsuchenden aus den Ankunftsländern konzentriert.
Die Innenminister wollen künftig eine faire Verteilung nach bestimmten Kriterien, die sich nach einem verbindlichen Mechanismus richtet und auch für die heftig umstrittene Verteilung von aus Seenot geretteten Personen gelten soll. Das wäre ein Abschied von der aktuellen Verteilung nach an der Familieneinheit und den Einreisewegen orientierten Kriterien hin zu einer Verteilung, die in etwa funktionieren soll, wie der sog. Königsteiner Schlüssel, nach dem asylsuchende Personen in Deutschland auf die Bundesländer verteilt werden.
Allerdings soll an den Ankunftspunkten ein verpflichtendes Vorscreening der Schutzsuchenden stattfinden, bei dem Sicherheits-, Gesundheits- und Identitätsüberprüfungen durchgeführt werden, bevor eine Verteilung stattfindet.
Mehr Asylverfahren ins EU-Ausland
Begleitend dazu sollen die Möglichkeiten, einen Asylantrag als unzulässig abzulehnen, ausgeweitet werden. Das bedeutet im Klartext, dass der Zugang zu Asylverfahren in den Mitgliedstaaten weiter beschränkt werden und in Staaten außerhalb des Dublin-Raumes ausgelagert werden soll.
Das klingt nach der Legalisierung des bisher nicht unter EU-Recht fallenden "EU-Türkei-Deals" und der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits mehrfach als illegal gekennzeichneten Praxis der ungarischen Behörden, Personen ohne inhaltliche Prüfung aus der Transitzone Röszke nach Serbien abzuschieben. Auch die Abschiebungspraxis ("hotreturns") an den Zäunen der spanischen Exklaven in Marokko könnte so zumindest Eingang in das EU-Sekundärrecht finden.
Darüber hinaus betonen die Innenminister in dem Papier, dass Personen ohne Schutzbedarf nicht erlaubt werden soll, auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bleiben. Das könnte auch ein europaweites Verbot von Aufenthaltslegalisierung insbesonderedes sog. Spurwechsel, mit dem der Wechsel vom Asylverfahren in die auf Dauer angelegte Zuwanderung möglich wäre, beinhalten.
Klare Positionierung der vier größten EU-Länder
Es ist zu erwarten, dass diese klare Positionierung der Innenminister dieser seit dem Brexit vier bevölkerungsstärksten EU-Staaten einen erheblichen Einfluss auf die Diskussionen zum geplanten Migrations- und Asylpakt und auf den angekündigten Neustart der Asylpolitik haben wird.
Leider enthält das Papier viele Maßnahmen, die seit 2016 mehrfach getestet wurden und die sich zum Teil – wie die solidarische Weiterverteilung von schutzsuchenden Personen aus Griechenland und Italien (sog. Relocation) – in der Praxis als sehr schwierig erwiesen haben.
Daneben sind in dem Papier viele Einzelmaßnahmen angesprochen, die die EU-Kommission schon in ihren nicht-konsensfähigen Reformvorhaben im Jahr 2016 vorgeschlagen hatte. Diese sind nicht nur auf großen Widerstand bei den Regierungen der Mitgliedstaaten gestoßen, sondern wurden gerade im Bereich der Asylverfahren und der Dublin-Reform auch vom Europäischen Parlament als unzureichend angesehen. Inwieweit die politischen Verhältnisse sich nunmehr so geändert haben, dass diese Vorschläge konsensfähig werden, ist also politisch mehr als fraglich.
Zu große Fokussierung auf Dublin-Reform
Zudem trägt die Fokussierung auf die Dublin-Reform das Scheitern des Vorschlags bereits in sich. Eine Verteilung ist nämlich nicht bereits dann gerecht, wenn sie asylsuchende Personen zwischen den Mitgliedstaaten nach einem bestimmten Schlüssel verteilt. Sie ist es vielmehr erst dann, wenn sie auch zu gleichen Chancen für die schutzbedürftigen Personen führt. Damit sind aber nicht Anerkennungschancen im Asylsystem gemeint, sondern die tatsächlichen Chancen, sich nach Schutzzuerkennung ein neues Leben aufzubauen.
Ohne eine Lösung für diese Frage, wird das System selbst bei einer Einigung auf eine Reform praktisch nicht funktionieren können. Leider sind in dem Papier und auch bei den bisherigen Plänen der EU-Kommission bereits einige der diesbezüglichen Prämissen falsch.
So ist die Grundannahme, dass sich asylsuchende Personen den Staat aussuchen, in dem sie "die besten Chancen auf internationalen Schutz erwarten," vielfach widerlegt: Die Entscheidungen für ein Land richtet sich nach familiären und kulturellen Bindungen sowie nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten und der generellen Bekanntheit des Landes. Asylsuchende haben selten detailliertes Wissen über die einzelnen Systeme der Länder und sind daran auch in der Regel nicht interessiert, sondern an dem was uns alle umtreibt: wo werde ich wohnen, wie kann ich mich und meine Familie ernähren und wo bin ich sozial gut angebunden?
Migrationssteuerung nicht über Detailfragen
Darüber hinaus ist es fatal zu suggerieren, dass allein mit Detailregelungen zu Verteilungs- und Zulässigkeitsfragen im Bereich des Asyls ein funktionierendes System geschaffen werden könnte. Schon jetzt ist die Asylverwaltung insgesamt und insbesondere der Verwaltungsapparat des Dublin-Systems dysfunktional. Der Vorschlag zielt aber auf mehr national organisiertes Verwaltungshandeln und birgt das Risiko, ein administratives Monster zu erschaffen, mit dem sich Asylpolitik wesentlich schlechter steuern lässt als bisher.
Eine Migrationsteuerung sollte also nicht bei asylrechtlichen Detailfragen stehenbleiben, sondern sich grundlegend mit der Frage der Vereinbarkeit nationaler Asylregeln und der Logik des Binnenmarktes sowie den Funktionslogiken einer globalisierten Welt beschäftigen.
Um die bestehenden Probleme anzugehen, wäre ein europäischer Ansatz notwendig, der umfassend angelegt ist und auch die globale Perspektive miteinbezieht und kein nationaler Alleingang in europäischem Gewand, der sich wie bisher auf Detailprobleme bei Zugangs- und Verteilungsfragen fokussiert.
Insoweit ist zu hoffen, dass das Schreiben nur als Input zu einer innereuropäisch wichtigen Detailfrage gemeint war und der hehre Anspruch "ein faires, effizientes, widerstandsfähiges und vor allem funktionierendes Gemeinsames Asylsystem" sich nicht in den im Schreiben enthaltenen Punkten erschöpft.
Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, München und Fribourg (Schweiz) und war Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.
Ideen zum EU-Asylsystem: . In: Legal Tribune Online, 29.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41454 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag