Mitten in der erhitzten Integrationsdebatte nach den Sarrazin-Aussagen fordert Wirtschaftsminister Rainer Brüderle mehr Einwanderung. In der öffentlichen Diskussion werden nun die Integration langjährig hier lebender Migranten und die Neueinwanderung von Fachkräften bunt vermischt. Letztere ist dringend nötig, meint Dr. Tillmann Löhr, der die Unterschiede erläutert.
Mehrere Wege führen nach Deutschland. Das Aufenthaltsgesetz ermöglicht den Zuzug zu verschiedenen Zwecken: Studium, Ausbildung, Schulbesuch, Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, Familiennachzug sowie Arbeitsmigration. Bei Letzterer wird nach der Qualifizierung unterschieden.
Nicht- und Geringqualifizierte sind alle, die keine mindestens dreijährige Ausbildung haben. Sie müssen ein konkretes Arbeitsangebot vorweisen. Zudem muss die Bundesagentur für Arbeit (BA) ihrer Beschäftigung zustimmen und sie müssen zu einer Berufsgruppe gehören, für die die Beschäftigungsverordnung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zulässt: Saisonarbeitnehmer, vor allem in der Landwirtschaft, Schausteller- und Haushaltsgehilfen oder Au-Pair-Kräfte. Zuletzt gilt die Vorrangprüfung. Hiernach gibt es nur dann eine Aufenthaltserlaubnis, wenn die jeweilige Stelle nicht von einem Deutschen oder EU-Bürger besetzt werden kann.
Qualifiziert ist, wer eine mindestens dreijährige Berufsausbildung hat. Auch hier gilt die Vorrangprüfung, auch hier muss die BA zustimmen und auch hier muss der Antragsteller zu einer in der Beschäftigungsverordnung genannten Gruppe zählen: Akademiker, IT-Fachkräfte, Sprachlehrer, Spezialitätenköche, leitende Angestellte und Spezialisten sowie Pflegekräfte.
Ohne Vorrangprüfung dürfen nur Hochqualifizierte einreisen. Das sind Spitzenwissenschaftler sowie Arbeitnehmer, die rund 63.000 Euro jährlich verdienen. Zuletzt darf als Selbständiger einwandern, wer mindestens 250.000 Euro investiert und voraussichtlich 5 Arbeitsplätze schaffen wird.
Fachkräftemangel, Demografie und Abwanderung
Schon jetzt klagen Arbeitgeberverbände über Fachkräftemangel. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer gab Ende August nach einer Umfrage bekannt, dass 70 Prozent der Firmen Probleme hätten, offene Stellen zu besetzen.
Dieser Trend wird sich verschärfen. Bei einer Geburtenrate von 1,35 Kindern pro Frau schrumpft die deutsche Bevölkerung stetig. Es gibt immer mehr Menschen im Renten-, aber weniger im Erwerbsalter. Internationale Organisationen, Wissenschaftler und Arbeitgeberverbände sind sich einig: Will Deutschland bestehenden Wohlstand sichern, braucht es qualifizierte Einwanderer. Wenngleich die Schätzungen quantitativ auseinandergehen, teilen sie doch ein Merkmal – hoch sind sie alle. Die OECD geht von einem jährlichen Bedarf von 150.000 Einwanderern aus, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung von 500.000.
Doch von steigenden Einwanderungszahlen ist Deutschland weit entfernt. Das zeigen die Zahlen aus 2008. Zwar war in Bezug auf Ausländer ein minimales Plus zu verzeichnen. 573.815 Ausländern, die zuzogen, standen 563.130 gegenüber, die fortzogen. Netto stieg die ausländische Bevölkerung also um 10.685 Personen. Berücksichtigt man aber, dass gleichzeitig 174.759 Deutsche auswanderten, aber nur 108.331 Ausland lebende Deutsche zurückkehrten, kam man 2008 auf ein negatives Wanderungssaldo von 55.743 Personen. Kurzum: Es wandern mehr Menschen aus als ein.
Punkte statt hoher Hürden
Innenminister Thomas de Maizière antwortet seinem Kabinettskollegen Brüderle, das Zuwanderungsrecht sei ausreichend flexibel, um gezielte Zuwanderung zu organisieren. Kein Rechtsanwalt, der Unternehmen und Einwanderungswillige berät, bestätigt das. Vorrangprüfung, bürokratische Verfahren und der beschränkte Katalog der Beschäftigungsverordnung errichten hohe Hürden auf dem Weg nach Deutschland.
Anders handhaben es Einwanderungsländer wie die USA oder Kanada. Sie setzen auf ein ebenso transparentes wie effektives Punktesystem. Wer anhand bestimmter Auswahlkriterien eine Punktzahl erreicht, kann ohne Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzangebotes einwandern. Zu den Kriterien zählen Ausbildungsabschlüsse, Berufserfahrung, Zusatzqualifikationen, Alter, Sprachkenntnisse und frühere Tätigkeit oder Verwandtschaft im Aufnahmestaat. In den Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz 2005 war beabsichtigt, ein Punktesystem einzuführen – doch dieses Vorhaben konnte gegen die Unionsmehrheit im Bundesrat nicht durchgesetzt werden. Nun ist es aktueller denn je.
Fachkräfte wollen umworben sein
Deutschland muss sich nicht nur um ein liberaleres Einwanderungsrecht bemühen, sondern auch um attraktivere Bedingungen. Ausländerbehörden wehren ab, statt willkommen zu heißen. Die Sprache ist schwierig. Löhne können nicht immer mit denen in High-Tech-Branchen in anderen Industriestaaten mithalten. Wissenschaftler werden vom feudal-bürokratischen Hochschulsystem abgeschreckt. Nachziehende Ehegatten müssen vor Einreise meist Deutsch lernen. Migranten begegnen Vorurteilen im Alltag. Sieht so ein Land aus, das sich vor Einwanderern kaum retten kann? Wohl kaum.
Um mit den Worten der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Lale Akgün zu antworten: "Manchmal kommt mir Deutschland wie eine Disco auf dem Land vor. Dieser Disco gehen zwar langsam die Gäste aus, aber sie leistet sich trotzdem einen Türsteher." Es wird Zeit, dass der Türsteher wieder für ein volles Haus sorgt.
Der Autor Dr. Tillmann Löhr ist promovierter Jurist und arbeitet als Referent bei der SPD-Bundestagsfraktion. Er ist Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zum deutschen und europäischen Einwanderungs- und Asylrecht.
In seinem Beitrag äußert er seine persönliche Auffassung.
Einwanderungsdebatte: . In: Legal Tribune Online, 10.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1429 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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