Die Türkei hat zehntausende Beamte suspendiert und inhaftiert – doch deren Beschwerden beim EGMR scheiterten bislang. Eine DAV-Konferenz diskutierte die Rolle des Gerichts, das nun wohl eine erste Entscheidung getroffen hat.
Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 hat die Türkei in gewaltigem Ausmaß ihren Staat entkernt. Mehr als 50.000 Menschen wurden verhaftet, darunter Journalisten, Anwälte und Richter – über 150.000 Regierungsbeamte, Lehrer und Uni-Dozenten wurden entlassen.
Einer von ihnen ist Mehmet Sönmez, er leitete früher Seminare zu Menschenrechten an einer Universität in einer türkischen Großstadt, später arbeitete er im Staatsdienst. Seinen richtigen Namen will er lieber nicht bei LTO lesen. Seine Familie lebt noch in der Türkei, er selbst hat in Deutschland mittlerweile Asyl erhalten.
Nur wenige Tage nach dem gescheiterten Putschversuch habe man ihn suspendiert, erzählt er, kurz darauf habe er die Türkei verlassen. Er soll Mitglied der Gülen-Bewegung sein, eine religiöse Gemeinschaft des im amerikanischen Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen. Die türkische Regierung vermutet Gülen und seine Anhänger hinter dem blutigen Putschversuch vom Sommer 2016, der Prediger streitet das ab.
Scheut sich der EGMR vor klagen Ansagen an die Türkei?
Sönmez hat gegen seine Entlassung Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eingereicht – und wurde abgewiesen. Wie ihm ging es rund 27.000 Antragsstellern mit ähnlichen Fällen aus der Türkei. Der EGMR begründet die Ablehnung damit, dass die Beschwerdeführer nach Art. 35 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) erst den Rechtsweg in der Türkei vollständig ausschöpfen müssten.
Mit der Rolle des EGMR in diesen Fällen beschäftigte sich am Montag eine Konferenz des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) in Berlin unter dem Titel "Turkey and the European Court of Human Rights – (In)effective remedy from Strasbourg". Gleich zu Beginn wurde die Frage in den Raum gestellt, die sich hinter dem Titel verbarg: Scheut der EGMR klare Ansagen an die Türkei?
Eingangs zeichnete der ehemalige Richter des EGMR, Riza Türmen, ein verheerendes Bild von den rechtsstaatlichen Überresten in der Türkei, die sich seit 1990 der EGMR-Rechtsprechung unterwirft. Die Situation in der Türkei habe sich nochmals deutlich verschärft, seit in dem Land der Ausnahmezustand verhängt und bereits sechs Mal verlängert worden ist. Dabei hat die Regierung im Sommer 2017 sogar eine Kommission geschaffen, die über Beschwerden wegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst entscheiden soll.
Nationale Rechtswegerschöpfung ineffektiv
Eben diese könnte sich nun aber für die Entlassenen zu einem Hindernis auf dem Weg nach Straßburg entwickeln. Aus Sicht des EGMR müssten alle Kläger zunächst durch dieses Nadelöhr, so Türmen. Er berichtet, dass nach einer aktuellen Statistik dort etwa 100.000 Fälle anhängig sind, die Kommission sei aber mit nur sieben Mitgliedern besetzt. Bislang seien nur rund 1000 Fälle entschieden worden. "Ist das eine wirksame Beschwerde? – Ich denke nein", sagte Türmen und illustrierte: "Nach meinen Berechnungen wird es 45 Jahre dauern, bis alle Fällen entschieden sind." Ein Zustand, der laut Türmen nicht nur für die Türkei, sondern auch für den EGMR einen Reputationsschaden bedeuten könnte.
Michael O'Boyle, ehemaliger Vizekanzler beim EGMR und damit dort zuständig für die Verwaltungsgeschäfte, verteidigte das Gericht gegen die Kritik. Es sei keine Frage, ob es in diesen Fällen entscheiden werde, sondern nur noch wann und unter welchen Bedingungen.Er erinnerte an viele "high-profile"-Fälle, in denen der EGMR in der Vergangenheit entschlossen vorgegangen sei – auch gegen die Türkei. Den Verdacht, dass der EGMR im Fall der Türkei politisch instrumentalisiert werde, weil das Land für die EU ein wichtiger Partner in der Terrorbekämpfung und bei der Flüchtlingspolitik sei, wies er zurück.
Rund 50.000 Beschwerden aus der Türkei
Die Istanbuler Professorin Basak Cali zeigte sich optimistisch, dass sich für die Kläger ein Zugang zum EGMR öffnen werde. Und sie betonte die wechselseitige Beziehung zwischen den türkischen Beschwerdefällen und der Rechtsprechung des EGMR. "Härtefälle aus der Türkei haben auch immer dafür gesorgt, dass sich die Rechtsprechung des EGMR weiterentwickelt hat." Cali warnte zugleich davor, zu viel von einer Beschwerde in Straßburg zu erwarten: "Auch wenn der EGMR solche Fälle zulässt, wissen wir noch gar nicht, wie er sie entscheiden wird."
Bei einem Erfolg spricht der EGMR den Geschädigten eine Kompensation zu und gibt dem jeweiligen Staat auf, Maßnahmen zu ergreifen, um zukünftige Rechtsverletzungen zu vermeiden. Die Umsetzung bleibt aber Sache des Staates – ein Prinzip, das auf "good faith", auf Treu und Glauben, angewiesen ist. Wie wenig der Türkei dabei zur Zeit über den Weg zu trauen ist, darin waren sich alle Sprecher einig.
Die emeritierte britische Professorin und Menschenrechtsanwältin Francoise Hampson wies auf rund 50.000 Fälle aus der Türkei hin, die den EGMR erwarten dürften. "Das Gericht steht vor dieser Aufgabe einigermaßen ehrfurchtsvoll." In Wirklichkeit seien es rechtlich gesehen aber deutlich weniger Fälle, beruhigte sie. So müsse in der Vielzahl nach gemeinsamen Mustern gesucht werden. Sie erinnerte auch an die Rolle von NGOs, die dabei helfen könnten, Beschwerden vorzubereiten und Tatsachenfragen zu klären. In den 1990er Jahren hatte Hampson mehrere Verfahren von Kurden gegen die Türkei zum EGMR begleitet.
Medien: EGMR verurteilt Türkei
Abschließend rief sie NGOs und Anwaltsvereine in West-Europa dazu auf, sich besser zu vernetzen. Sie schlug vor, eine Datenbank zu schaffen und Informationen über einzelne Fälle besser auszutauschen. "Wir brauchen eine Gesamtstrategie", forderte Hampson. Dafür gab es aus dem vollbesetzten Publikum breite Zustimmung.
In der anschließenden Diskussionsrunde meldete sich nun auch Mehmet Sönmez, der suspendierte Jura-Dozent, und griff zum Mikrofon: "Ich werde wahrscheinlich tot sein, bis über meinen Fall entschieden wird, aber jetzt bin ich ein lebendes Beispiel", sagte er.
Vielleicht gibt es bereits schneller als erwartet Hoffnung für Menschen wie Sönmez: Nach türkischen Medienberichten soll der EGMR hinter verschlossenen Türen eine erste Entscheidung getroffen haben – in dem prominenten Fall der beiden inhaftierten Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay. Sie hatten im Januar 2018 vor dem türkischen Verfassungsgericht einen Erfolg errungen, die Strafgerichte hatten sich aber anschließend geweigert, die beiden freizulassen. Inländische Medien wollen nun aus vertraulichen Quellen erfahren haben, dass der EGMR eine Rechtsverletzung des türkischen Staates festgestellt hat. Überprüfen lassen sich diese Informationen nicht. Die Entscheidung soll am 20. März veröffentlicht werden, kündigte der EGMR in einer Pressemitteilung vom Dienstag an.
Markus Sehl, DAV-Konferenz zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei: . In: Legal Tribune Online, 06.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27367 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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