Städte und Gemeinden versuchen, Proteste gegen Corona-Maßnahmen vorab zu verbieten - das ist nicht immer verhältnismäßig. Was aber, wenn klar ist, dass sich bei Protesten kaum jemand an Abstandsgebote und Maskenpflicht hält?
"Etwa 670 Personen protestieren bei Corona-Spaziergang in Stockach" (Der Südkurier), "Aggressive Stimmung, verletzte Polizisten (MDR), "Corona-Spaziergänge im Kreis Olpe: Wann hohes Bußgeld droht" (Westfalenpost) – die Regionalzeitungen sind voll von Meldungen zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, häufig organisiert von rechten und rechtsextremen Gruppierungen.
In vielen deutschen Städten versammeln sich – teils regelmäßig am Montag, teils aber auch samstags oder unter der Woche – mehrere Hundert Menschen, um gegen die aktuellen Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Teilweise werden die Treffen als Versammlung oder Kundgebung angemeldet, oft aber auch nicht. In der Regel werden sie auch nicht breit angekündigt und beworben, sondern etwa über Messenger-Dienste, insbesondere Telegram, verabredet.
Mit dem Label "Spaziergang" hoffen die Organisatorinnen und Organisatoren offenbar, geltende Regelungen für Versammlungen umgehen zu können – und damit auch entsprechende Einschränkungen oder Auflagen. Dass auch solche "Spaziergänge" als Versammlung einzustufen sind, ist jedoch unumstritten.
Wenn absehbar ist, dass sich niemand an Corona-Regeln hält ...
"Auf das Framing als ‘Spaziergang‘ sollte man nicht hereinfallen. Es geht ganz klar um eine Versammlung", so der Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht Dr. Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist das grundsätzlich ein Vorteil, sie genießen damit den Schutz des Art. 8 Grundgesetz (GG), betont Kingreen: "Das Versammlungsrecht soll Versammlungen ja gerade ermöglichen. Aber es sind eben auch Einschränkungen möglich – etwa die Anzeigepflicht oder Auflagen, wie etwa Abstandgebote und Maskenpflicht.“
Nur was, wenn schon absehbar ist, dass sich kaum jemand daran halten wird? Dass hunderte Menschen ohne Abstand und Maske Parolen grölen werden? Dass Ausschreitungen, Pöbeleien und gewalttätige Angriffe sehr wahrscheinlich sind? Müssen es die Behörden jedes Mal von neuem darauf ankommen lassen oder können sie die "Spaziergänge" im Vorhinein verbieten?
Das Land Sachsen hat etwa in der aktuell gültigen Fassung der Corona-Notfall-Verordnung lediglich ortsfeste Versammlungen mit maximal zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmern erlaubt, die Regelungen sollen nun gelockert werden, sodass Versammlungen mit maximal 200 Menschen möglich sind. Der Leipziger Staatsrechtler Dr. Jochen Rozek nannte diese Regelungstechnik in der Leipziger Volkszeitung am Samstag "verfassungsrechtlich suspekt" und sagte, diese Bedenken würden auch nicht ausgeräumt, wenn künftig mehr Menschen an den Versammlungen teilnehmen dürften.
In anderen Bundesländern versuchen Städte und Gemeinden stattdessen, nicht angemeldete Versammlungen vorab per Allgemeinverfügung zu verbieten, so etwa für die Stuttgarter Innenstadt. Doch auch dieses Vorgehen hat einige Tücken. Die Rechtslage zwischen Infektionsschutzgesetz und den Versammlungsgesetzen der Länder ist alles andere als klar.
VG Düsseldorf: Das Ordnungsamt ist die falsche Behörde
So hatte die Stadt Düsseldorf eine Demonstration von Impfpflicht-Gegnern am Samstag zunächst untersagt. Die Veranstaltung war zwar beim Polizeipräsidium angezeigt worden, doch das Ordnungsamt untersagte den Aufzug aus infektionsschutzrechtlichen Gründen und erklärte lediglich eine Kundgebung für zulässig – die Zahl potenziell infektionsrelevanter Kontakte sei bei einer Demonstration besonders hoch, hieß es dazu in einer Erklärung der Stadt.
Das Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf kassierte das Verbot am Freitagabend: Das Ordnungsamt sei die falsche Behörde, um eine Versammlung zu verbieten. Mit dem Ende der sogenannten epidemischen Lage von nationaler Tragweite sei die Zuständigkeit von den Ordnungsbehörden der Kommunen wieder auf die Versammlungsbehörden zurückgegangen, also in diesem Fall die Polizei, erklärte ein Sprecher des Gerichts gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.
Das zumindest lässt den Schluss zu: Ein Verbot seitens der Polizei auf Grundlage des Versammlungsrechts ist grundsätzlich möglich.
VG Neustadt (Weinstraße): Komplexe Rechtsfragen
Etwas weiter südlich, beim VG Neustadt an der Weinstraße, ist man sich dagegen nicht so sicher. Hier hatten es das Gericht mit einer Allgemeinverfügung zu tun, die von der Kreisverwaltung Südliche Weinstraße als Versammlungsbehörde erlassen wurde. Gestützt auf das Versammlungsgesetz wurden damit vom 28. Dezember 2021 bis zum 2. Januar 2022 "nicht ordnungsgemäß angemeldete und behördlich bestätigte Ersatzversammlung zu sogenannten ‘Montagsspaziergängen’ im Landkreis Südliche Weinstraße" verboten. Es sei zu erwarten, dass infektionshygienische Auflagen von den Teilnehmenden nicht befolgt würden, hieß es in der Begründung.
Das allerdings werfe eine "komplexe Rechtsfrage" auf, so das VG. Insbesondere bedürfe es einer Klärung der Frage, "in welchem Verhältnis die versammlungsrechtliche Befugnis zum Erlass eines Versammlungsverbots nach § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz zu den infektionsschutzrechtlichen Befugnissen nach § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) zum Erlass von notwendigen Schutzmaßnahmen" stehe.
Das Problem: Gemäß § 28a Abs. 8 IfSG können die Länder zwar unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin Schutzmaßnahmen nach dem IfSG anwenden – doch die Untersagung von Versammlungen ist davon explizit ausgenommen. Sollen damit sämtliche Versammlungsverbote, die letztlich auf Gründen des Infektionsschutzes beruhen, ausgeschlossen sein?
Das VG Neustadt sah sich vor einem Rätsel: In Anbetracht der knappen zur Verfügung stehenden Zeit in einem Eilverfahren könne "nicht verlässlich beurteilt werden", ob das Verbot "offensichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig" sei. Man behalf sich schließlich mit einer Interessenabwägung, die zugunsten des Landkreises ausfiel, der angekündigt hatte, die Allgemeinverfügung jedenfalls nicht zu verlängern.
Vorsicht mit Vorabverboten
Spricht man mit Verfassungs- und Polizeirechtlern, wird klar, dass das Verhältnis zwischen den Regelungen des IfSG und den Versammlungsgesetzen der Länder zwar durchaus nicht vollständig geklärt ist.
Andererseits ist der Fall womöglich doch nicht ganz so kompliziert. Jedenfalls dann nicht, wenn die Versammlungsbehörden auf Grundlage des Versammlungsrechts entscheiden, das ein Verbot von Versammlungen ermöglicht, wenn Gefahren für die öffentliche Sicherheit bestehen. Die zentrale Frage lautet dann: Ist ein pauschales Verbot per Allgemeinverfügung verhältnismäßig?
"§ 28a IfSG sieht vor, dass Versammlungen nicht grundsätzlich untersagt werden können, wenn keine vom Bundestag festgestellte epidemischen Lage von nationaler Tragweite besteht. Abgesehen davon halte ich ein pauschales Verbot von Versammlungen ohnehin für unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig", so Kingreen. "Auf das Verhältnis zwischen dem IfSG und den Versammlungsgesetzen der Länder kommt es letztlich nicht an." Die Versammlungsbehörden könnten jedenfalls nur in Einzelfällen eine konkrete Versammlung verbieten.
Auch Professor Dr. Clemens Arzt von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin betont: "Vorabverbote sind mit Blick auf den hohen verfassungsrechtlichen Schutz aus Art. 8 GG die absolute Ausnahme." Die Verwaltungsgerichte sollten "wachsam sein, dass sie hier nicht die Maßstäbe zum Nachteil der Versammlungsfreiheit verschieben, was durchaus in den vergangenen Monaten immer wieder festzustellen war".
Ein Verbotszeitraum von mehreren Tagen am Stück und ein räumlich großes oder nicht klar umgrenztes Gebiet können darauf hindeuten, dass das Verbot als zu pauschal unverhältnismäßig ist, meint Arzt. "In engen Grenzen und mit einer plausiblen Begründung können die Behörden im Versammlungsrecht auch per Allgemeinverfügung Verbote aussprechen – etwa wenn klar ist, dass Versammlungen geplant sind, diese aber bewusst nicht angemeldet werden, weil die Veranstalter Auflagen zum Infektionsschutz umgehen wollen." In Kaiserslautern und in Stuttgart gelten die Allgemeinverfügungen auch noch für die kommenden Wochen.
Masken auf oder Versammlung auflösen
Klar ist, dass die Behörden keine Versammlungen dulden müssen, bei denen Abstandsgebote nicht eingehalten werden und sich eine Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer weigert, Masken zu tragen.
"Die ‘Spaziergänge‘ sind grundsätzlich von der Versammlungsfreiheit geschützt, aber das heißt ja nicht, dass alle möglichen Verstöße geduldet werden müssen", so Kingreen. "Die Polizei kann – und muss – gegen Versammlungen vorgehen, wenn es Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gibt, also wenn etwa Auflagen nicht eingehalten werden oder wenn es zu Ausschreitungen kommt. Das kann bis hin zur Auflösung der Versammlung gehen."
Dabei muss die Polizei ihr Ermessen verfassungsgemäß ausüben. "Die Polizei muss den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Chance geben, ihr Versammlungsrecht – gegebenenfalls unter notwendigen und verhältnismäßigen Auflagen – auszuüben", erklärt Arzt. "Die Versammlungsbehörde kann und muss auch bei einer nicht angemeldeten Versammlung den Art. 8 GG beachten und kann allein wegen des Fehlens der Anmeldung eine Versammlung nicht auflösen. Sie kann aber zum Beispiel dreimal dazu auffordern, dass ordnungsgemäß Masken getragen und Abstände eingehalten werden – passiert das in breitem Maße nicht, kann die Versammlung aufgelöst und ein Platzverweis erteilt werden."
"Rechtlich problematisch ist hingegen, wenn schon per Allgemeinverfügung unmittelbarer Zwang angedroht wird. Das erfordert eine Einzelfallentscheidung vor Ort und kann zeitlich mit der Auflösung geschehen", warnt Arzt.
Wenn die Behörden also vorab Versammlungen untersagen wollen, müssen sie ihr Vorgehen genau prüfen. Klare Hinweise von den Verwaltungsgerichten wären dabei sicher hilfreich. Für die Polizei bleibt es dabei, dass sie sich auf der Straße mit den "Spaziergängerinnen und -gängern” auseinandersetzen muss.
Versammlungen und Infektionsschutz: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47153 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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