Muss man sich in der Coronakrise Sorgen machen um die Demokratie? Christoph Möllers über die Einschränkung von Grundrechten, die Rolle der Parlamente und eine Bundesregierung, die bis an rechtsstaatliche Grenzen geht.
LTO: Herr Professor Möllers, machen Sie sich angesichts der Coronakrise Sorgen um die Demokratie?
Möllers: Ich mache mir eigentlich immer Sorgen um die Demokratie.
Haben wir eine Bundesregierung, die "durchregiert"?
Natürlich ist die Bundesregierung zurzeit viel dominanter als sonst. Das ist typisch für den Umgang mit solchen Krisen. Typisch für die Bundesrepublik ist aber auch, dass wir eine föderale Vielfalt an Exekutiven haben, die Lösungen aushandeln. Zu viel Zentralisierung beim Bund könnte deswegen gerade in einer Situation, in der die Parlamente wenig präsent sind, zum Problem werden.
Also machen Sie sich eher Sorgen um den Föderalismus?
Ich wundere mich jedenfalls manchmal darüber, wie wenig die Länder um ihre Kompetenzen kämpfen und wie froh sie sind, wenn der Bund ihnen etwas abnimmt. Es wäre schön, wenn die Länder dabei blieben, dass gerade der Vollzug von Bundesgesetzen ihre Angelegenheit ist.
Welche Rolle müssen jetzt die Parlamente spielen?
Wichtig ist, dass der Bundestag und die Landesparlamente jetzt nicht Strukturen schaffen, mit denen sie sich selbst ersetzen – etwa einen Notausschuss, der die Aufgaben des Parlaments übernimmt. Sie sollten die Coronakrise als technisches Problem begreifen und dafür sorgen, dass sie handlungsfähig bleiben. Etwa indem sie sich symmetrisch verkleinern, also zum Beispiel sogenannte Pairing-Verfahren einführen, sodass Mehrheitsverhältnisse gewahrt bleiben, auch wenn Abgeordnete ausfallen, weil sie erkrankt sind oder unter Quarantäne stehen. Oder auch dadurch, dass Präsenzpflichten durch digitale Kommunikation, wenn nötig, ersetzt werden können. Mit der aktuellen Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages zum Beispiel sind wir da auf einem guten Weg.
"Welche Freiheitsbeschränkungen wollen wir in Kauf nehmen und was soll es kosten?"
Wie steht es um die Wahrung von Freiheitsgrundrechten einerseits und Schutzpflichten des Staates andererseits? Darüber wird viel diskutiert, wenn es etwa um Überwachung oder Terrorbekämpfung geht. Muss man diese Debatte auch jetzt führen?
Ja, auf jeden Fall. Wir müssen bilanzieren, was wir für angemessen halten, und wir müssen uns fragen, welche Freiheitsbeschränkungen wir in Kauf nehmen wollen und was es kosten soll. Was jetzt gegen die Corona-Pandemie gemacht wird, ist sicherlich ad hoc richtig. Aber es fehlt uns die Übersicht darüber, was wir wie gewichten. Wir brauchen vergleichbare Maßstäbe. Man wird diese Diskussionen nach der Krise neu führen müssen, etwa mit Blick auf die Terrorismusbekämpfung, wo wir relativ scharfe Freiheitsbeschränkungen sehen, aber auch mit Blick auf den Klimawandel. Das wird eine politische Diskussion. Verfassungsrechtlich lässt sich keine allgemeine Formel für eine solche Abwägung finden.
Es gelten jetzt in allen Bundesländern Kontaktverbote und teilweise Ausgangsbeschränkungen – welche Grundrechte sind nun eingeschränkt?
Sehr viele: die Versammlungsfreiheit, teilweise die Vereinsfreiheit, die Religionsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, etwa wenn es darum geht, dass man Freunde nicht mehr besuchen darf, die Berufsfreiheit natürlich und ich denke es wird auch zu Eingriffen in das Eigentum kommen.
Es gibt zurzeit einen breiten gesellschaftlichen Konsens auch für weitgehende Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Ist es denn angesichts dessen verhältnismäßig, dass diese Maßnahmen per Verordnung durchgesetzt werden? Oder müsste der Gesetzgeber zunächst auf Aufklärung und Freiwilligkeit setzen?
Wenn sich Mehrheiten für solche Eingriffe finden lassen, dann ist es schon in Ordnung, diese auch als Verbot auszugestalten. Das hat auch eine entlastende Funktion für alle: Es schafft Klarheit, was gerade erforderlich ist und was nicht. Es mag milder sein, erstmal darum zu bitten, die Leute mögen sich an bestimmte Regeln halten, aber es vermittelt nicht die gleiche Ernsthaftigkeit.
"Die physische Versammlungsfreiheit ist nicht überholt"
Die Versammlungsfreiheit ist für zwei Wochen ausgesetzt. Ist das nicht besonders kritisch, gerade angesichts der massiven Einschnitte, einer starken Exekutive und womöglich geschwächten Parlamenten? Oder ist die Versammlungsfreiheit angesichts anderer Kommunikationsmöglichkeiten sowieso weitgehend überholt?
Ich würde keinesfalls sagen, dass die klassische, physische Versammlungsfreiheit überholt ist. Versammlungen üben Druck auf die staatlichen Institutionen aus und dabei kommt es durchaus darauf an, dass sich eine Menge von Menschen im öffentlichen Raum versammelt. Ich denke, wir können das jetzt mal für ein paar Wochen durchhalten – aber man wird nicht ein halbes Jahr lang sämtliche Demonstrationen verbieten können.
Es wird immer wieder über Fake News im Zusammenhang mit Corona berichtet. Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius hatte deshalb gefordert, mit Bußgeldern und Strafandrohungen schärfer dagegen vorzugehen. Bringt das die Meinungsfreiheit in Gefahr?
Ja, das ist eine große Gefahr für die Meinungsfreiheit. Und es ist ein schlechtes Zeichen für den politischen Prozess, wenn man meint, jetzt in diesem Bereich auf schärfere Sanktionen setzen zu müssen. Gerade wenn wir den Ausfall der Versammlungsfreiheit kompensieren wollen, ist eine freie Kommunikation absolut notwendig. Hier muss der Staat auf seine eigene Informationspolitik vertrauen.
Das Robert-Koch-Institut setzt anonymisierte Handydaten ein, um zu beobachten, wie die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus wirken. Den Vorschlag, infizierte Personen per Handydaten zu orten, hat die Bundesjustizministerin dagegen abgelehnt. Wäre das verfassungsrechtlich möglich?
Das hängt sehr davon ab, wie man das konkret ausgestaltet. Man bräuchte bei personenbezogenen Daten zumindest einen Richtervorbehalt. Dass das einfach so die Gesundheitsämter anordnen könnten, sehe ich nicht.
"Sterbenden Menschen Begleitung zu untersagen, trifft den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts"
Wenn man sich die dramatische Situation in Italien anguckt, ist klar, was auf uns noch zukommen kann: Völlig überlastete Krankenhäuser, in denen die Ärzte entscheiden müssen, wen sie behandeln und wen sie sterben lassen. Brauchen wir dafür gesetzliche Vorgaben?
Der Gesetzgeber kann da wenig Gutes tun. Solche Regelungen könnten zwar den Effekt haben, Ärzte von schwierigen Entscheidungen zu entlasten. Aber sie würden eben auch dazu führen, dass der Gesetzgeber Kriterien dafür aufstellt, wen er sterben lässt und wen nicht – und das ist für jedes Gemeinwesen sehr schwer zu verkraften. Die Rechtsverordnung in Berlin sieht vor, dass die Krankenhäuser Kapazitäten freimachen müssen, um Corona-Patienten bevorzugt zu behandeln. Auch das ist schon fragwürdig. Man sollte solche Entscheidungen grundsätzlich eher der Selbstorganisation der Krankenhäuser überlassen.
Wir hatten erst kürzlich ein sehr liberales Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe. Müsste man nicht jetzt viel mehr über ein würdiges Sterben sprechen – und zwar nicht nur, wenn es um die Entscheidung zum Suizid geht, sondern zum Beispiel darüber, dass auch schwerkranke Corona-Patienten von Angehörigen begleitet werden dürfen?
Auf jeden Fall. Ich glaube, wir denken darüber zu wenig nach, weil wir angesichts der Ereignisse kaum nachkommen. Aber hier liegt ein verfassungsrechtliches Problem. Beerdigungen im größeren Kreis kann man sicherlich einschränken. Aber sterbenden Menschen die Begleitung durch nächste Angehörige zu untersagen, das trifft den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts. Teilweise hat auch der Verordnungsgeber darauf reagiert und etwa hier in Berlin Besuche in Hospizen wieder zugelassen.
"Die Gerichte wissen am besten selbst, wie sie ihrer Funktion in Notzeiten gerecht werden"
Auch die Gerichte haben auf "Notbetrieb" umgestellt. Die Justizminister verkünden weitreichende Einschränkungen, die Gerichte teilen mit, dass zahlreiche Verhandlungen abgesagt werden. Ist der Zugang zum Recht noch gewährleistet?
Was ich ganz interessant finde, ist, dass sich die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts anders liest, als die der meisten anderen Gerichte. Offenbar versucht man dort, möglichst normal weiterzuarbeiten, nur ohne persönlichen Kontakt. Grundsätzlich glaube ich aber, dass man ein gewisses Vertrauen in das Justizsystem haben kann und die Gerichte selbst am besten wissen, wie sie ihrer Funktion auch in Notzeiten gerecht werden können.
Angesichts der weltweiten Corona-Pandemie: Wieviel Vertrauen haben Sie in die Arbeit der Bundesregierung – und wie sieht es in anderen westlichen Demokratien aus?
Die Bundesregierung geht im Moment bis an rechtsstaatliche Grenzen, aber ich denke, sie geht nicht klar darüber hinaus. Es gibt zwei Länder, in denen sich Wechsel hin zu einer autoritäreren Ordnung abzeichnen. In Ungarn will Ministerpräsident Viktor Orbán künftig ohne Parlament regieren, dort bekommen wir eine militärisch geprägte Diktatur. Und in Israel haben wir eine politisch sehr heikle Lage, in der die Abwahl des Premierministers davon abhängt, ob das Parlament zusammengerufen wird – das geschieht aus seuchenpolizeilichen Gründen momentan nicht, obwohl es eine entsprechende Entscheidung des Obersten Gerichts gibt.
Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M. hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Er ist Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und leitet das Projekt re:constitution am Forum für Transregionale Studien.
Coronakrise und Verfassungsrecht: . In: Legal Tribune Online, 25.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41061 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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