Die Verwaltung des Europaparlaments hat ein Video des Satire-Politikers Martin Sonneborn einkassiert, weil es dessen Würde verletze. Ein bedenkliches Zensurargument, falls man das nicht differenziert betrachtet, findet Sebastian Roßner.
Am 12. Februar 2020 wurde die Verwaltung des Europäischen Parlamentes auf ein Video aufmerksam, das einer seiner Abgeordneten gedreht hatte. Martin Sonneborn, MdEP, Satiriker und Vorsitzender der Partei "Die Partei", erläutert darin, weshalb die Hufeisentheorie vermutlich als das "erbärmlichste politische Analyseangebot des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird".
Zur Erinnerung: Die Hufeisentheorie sagt im Kern aus, die politische Mitte sei von den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums gleich weit entfernt, während jene sich - unbeabsichtigt - einander annäherten. Die Theorie erlangte neue Bekanntheit in der kürzlich entbrannten Debatte, dass der linke und der rechte Rand des politischen Spektrums von der Mitte gleich zu behandeln seien.
Um die Hufeisentheorie zu versinnbildlichen, trägt Sonneborn in dem Video am rechten Arm eine Papierbinde mit Hammer und Sichel, am linken Arm eine solche mit dem Hakenkreuz. Beide reißt er sich gegen Ende des Clips von den Armen. Das Video wurde von der Parlamentsverwaltung auf Betreiben des Parlamentspräsidenten David Sassoli nicht freigegeben. Er begründete das im Kern damit, das Video verletze die Würde des Parlaments. Gedreht wurde die Urfassung des Videos in einer Film-Box des Parlaments, weswegen die Verwaltung überhaupt Zugriff auf die Daten nehmen konnte.
Der Clip, der nun doch auf den einschlägigen Internetplattformen zu sehen ist und regen Zuspruch erfahren hat, ist bereits die zweite Version, die Sonneborn und sein Team mit privaten Mitteln aufgenommen haben.
Wie ein Parlament politische Werbung macht
Hier wird es rechtlich spannend: Parlamentarische Film-Boxen und eine Parlamentsverwaltung, welche die dort aufgenommenen Videos vorab zensiert?
In der Tat hält das Europaparlament eine Kommunikationsabteilung vor, die nicht nur - wie übrigens auch die Kollegen beim Deutschen Bundestag - die eigene Internetseite pflegt und sich dabei einer geradezu schweizerischen Neutralität befleißigt, sonderndas Europäische Parlament greift ein in den politischen Meinungskampf, wie sich dies vor einem knappen Jahr bei der Diskussion um die Urheberrechtsrichtlinie zeigte. Das Europaparlament verbreitete auf Twitter eine Art Werbevideo für die auch im Parlament selbst höchst umstrittene Neuregelung des Urheberrechts.
Diese Art von Kommunikation stellt einen Eingriff in die Chancengleichheit der politischen Parteien dar. Letztere ist auch im Unionsrecht geschützt, wie sich etwa daraus ergibt, dass die Parteien im Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip und der Meinungsfreiheit besonders hervorgehoben werden (Art. 10 Abs. 4 Vertrag über die Europäische Union (EUV); Art. 12 Abs. 2 Grundrechtecharta (GRCh)).
Die "amtliche" Verbreitung einer bestimmten, innerhalb wie außerhalb des Parlaments umstrittenen Ansicht beeinträchtigt diejenigen Parteien, die eine andere Meinung zu dem Thema vertreten. Ähnliches gilt auch für die Abgeordneten des Europaparlaments, deren chancengleiche Freiheit, an der Willensbildung im Parlament mitzuwirken, etwa durch Art. 2 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (GO EP) geschützt wird und sich im übrigen aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie nach Art. 10 Abs. 1 EUV ergibt.
Aber auch in anderer Hinsicht können die medialen Einrichtungen des Europaparlaments den politischen Wettbewerb verzerren. Denn nach Art. 10, 11 Abs. 1 der Regelung für Nutzung der audiovisuellen Einrichtungen (AV-Regelung) ist die Nutzung der "Voxbox" genannten Film-Boxen für die Parlamentsmitglieder kostenlos. Dies ist problematisch , da politischen Konkurrenten, die nicht Abgeordnete sind, diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht.
Die Causa Sonneborn
Damit kommen wir zur eigentlichen Causa Sonneborn. Der Satiriker und Europapolitiker wollte von der Voxbox Gebrauch machen, stieß dabei jedoch auf den Widerstand der Parlamentsverwaltung, die Art. 2 Abs. 3 AV-Regelung ins Feld führte. Danach unterliegt die Nutzung der Boxen und der anderen audiovisuellen Einrichtungen zwar keinen "redaktionellen Richtlinien oder Leitlinien". Aber Satz 2 der Regelung zieht dann, sprachlich etwas verunglückt, doch eine Grenze: "Allerdings dürfen die Einrichtungen nicht für Zwecke der Werbung, Reklame oder Öffentlichkeitsarbeit für Dritte benutzt werden, die Würde oder Ordnung des Europäischen Parlaments beeinträchtigen oder zu finanziellen Vorteilen führen", heißt es dort.
Nach Ansicht der Parlamentsverwaltung verletzte das Video die Würde des Parlaments. Für einen solchen Fall sieht Art. 15 Abs. 6 S. 2 AV-Regelung vor, dass der Parlamentspräsident "angemessene Maßnahmen" ergreifen kann. In diesem Fall entschied Präsident Sassoli, das Video nicht freizugeben. Die Würde des Parlaments sah die Verwaltung dabei deshalb verletzt, weil Martin Sonneborn die papierne Hakenkreuzbinde trug. Sie nahm dabei auch auf das in Deutschland geltende Verbot Bezug, dieses Symbol zu verwenden, § 86a Strafgesetzbuch (StGB).
Allerdings lässt sich aus der deutschen Rechtslage wohl wenig für die Ansicht der Parlamentsverwaltung ableiten. Denn nach § 86a Abs. 3 i.V.m. § 86 Abs. 3 StGB ist es nicht strafbar, Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu verwenden, falls dies "der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient." Zudem hat der Bundesgerichtshof bereits festgestellt, dass es den Tatbestand ausschließe, falls das eigentlich verbotene Symbol eindeutig verwendet werde, um die Gegnerschaft zu der verfassungswidrigen Organisation - dies wäre hier die NSDAP - oder ihrer Ideologie zum Ausdruck zu bringen (BGH, Urt. v. 15.03.2007, Az. 3 StR 486/06 Rn. 12 ff.). Martin Sonneborn hat demnach mit seinem Hufeisentheorie-Video nicht gegen in Deutschland geltende Verbote verstoßen.
Warum die Würde des Parlaments nicht verletzte wurde
Richtigerweise ist wohl auch die Würde des Parlaments nicht verletzt worden. Dieser Begriff ist einigermaßen vage. Er muss daher nicht nur in Hinblick auf die Freiheit des Mandats nach Art. 2 GO EP, sondern vor allem auch auf die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art. 11 GRCh wie nach Art. 10 Europäische Menschenrechtskommission (EMRK) näher bestimmt werden. Denn diese grundrechtsartigen Garantien gelten auch für Abgeordnete des Europaparlaments (Gericht der Europäischen Union, Urteil v. 31.05.2018, Az. T-352/17).
Die Würde des Parlaments stammt als Rechtsbegriff eigentlich aus dem Recht der parlamentarischen Sitzungen, § 11 Abs. 3 UA 1 S. 1 GO EP, und steht dort im Zusammenhang mit dem Verhalten der Abgeordneten in den Gremien des Parlaments. Es geht also darum, die Funktionstüchtigkeit des Europaparlaments zu schützen. Zugunsten dieses Schutzgutes darf - in verhältnismäßiger Weise - auch in die Meinungsfreiheit eingegriffen werden, wobei dies gut und genau zu begründen ist. Denn ansonsten könnte die Würde des Parlaments zu einem Zensurvorbehalt degenerieren, welcher der Parlamentsverwaltung weitgehend freie Hand lässt, ihre Vorstellungen von einem "anständigen Verhalten" durchzusetzen.
Das Gebot, zurückhaltend mit dem Begriff der Würde des Parlaments umzugehen, gilt umso mehr, je weiter der angebliche Verstoß sich vom Kern der Arbeit des Parlaments, nämlich von dessen Beratungen, entfernt. In der Voxbox verletzt der Abgeordnete die Würde des Parlaments nur dann, wenn sein Verhalten das öffentliche Ansehen des Parlaments soweit herabsetzt, dass dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird. Hakenkreuze in Videobotschaften zu verwenden, ist dafür prinzipiell durchaus geeignet. Aber die Freiheit der Meinungsäußerung verbietet, alle Fälle ungeprüft über einen Kamm zu scheren. Vielmehr muss jede Meinungsäußerung einzeln und in ihrem Kontext gewürdigt werden. Und hier ergibt sich wieder dasselbe Bild wie nach den Vorschriften des deutschen StGB: Erkennbar distanziert sich Martin Sonneborn von der nationalsozialistischen Ideologie, indem er satirische Mittel einsetzt.
Die Würde des Parlaments wurde also nicht verletzt – auch wenn man das in der Brüsseler Parlamentsverwaltung anders sieht.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt für die Kanzlei LLR in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
Beschränkte Meinungsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 28.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40535 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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