Seit genau einem Monat ist die Amtszeit von Verfassungsrichter Andreas Paulus abgelaufen. Nach Ostern wird der Kandidat präsentiert. Es ist der Auftakt zu einem massiven personellen Umbruch am BVerfG. Christian Rath gibt einen Überblick.
Gerne wird die Wahl der Bundesverfassungsrichter:innen mit der Auswahl der Richter:innen am US-Supreme Court verglichen. Deutschland gilt dann wahlweise als defizitär intransparent oder als vorbildlich unaufgeregt. Während in den USA die Wahl der höchsten Richter:innen Wahlkampfthema ist und ihre Anhörung per TV übertragen wird, findet die Auswahl der deutschen Verfassungsrichter:innen eher im Stillen statt. Ihre Namen werden in der Regel erst kurz vor der Wahl bekannt.
Dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das bisher nicht geschadet. Wenn die Richterwahl diskret abläuft und die Richter:innen deshalb in der Öffentlichkeit wenig bekannt sind, wird das Gericht eher als Einheit angesehen, die Recht spricht und nicht als Kampfarena von parteipolitischen Lagern.
Zwar ist das BVerfG als politisches Gericht zurecht in seiner Legitimation an die Politik angekoppelt. Die Wahl der Richter:innen mit Zwei-Drittel-Mehrheit sichert aber eine pluralistische Besetzung und bevorzugt Kandidat:innen, die auch für das jeweils andere Spektrum tragbar sind.
Proporzformel "3 - 3 - 1 - 1"
Das BVerfG besteht bekanntlich aus zwei Senaten mit je acht Richter:innen. Diese 16 Richter:innen werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt. Erforderlich ist jeweils die besagte Zwei-Drittel-Mehrheit.
Derzeit sitzen im Ersten Senat drei Richter auf CDU/CSU-Vorschlag (Präsident Stephan Harbarth, Josef Christ, Henning Radtke), drei Richterinnen auf SPD-Vorschlag (Gabriele Britz, Yvonne Ott, Ines Härtel), eine Richterin auf Grünen-Vorschlag (Susanne Baer) und ein Richter auf FDP-Vorschlag (Andreas Paulus).
Im Zweiten Senat sitzen vier Richter:innen auf CDU/CSU-Vorschlag (Peter M. Huber, Sibylle Kessal-Wulff, Christine Langenfeld, Peter Müller), drei Richter:innen auf SPD-Vorschlag (Vizepräsidentin Doris König, Monika Hermanns, Ulrich Maidowski) und eine Richterin auf Vorschlag der Grünen (Astrid Wallrabenstein).
2018 haben sich die Parteien auf die Proporz-Formel "3 - 3 - 1 - 1" geeinigt. Sie bedeutet, dass in jedem Senat je drei Richter:innen auf Vorschlag von CDU/CSU und SPD sitzen sollen und je ein:e Richter:in auf Vorschlag von Grünen und FDP. Die Linke und die AfD werden nicht berücksichtigt, da sie für die Zwei-Drittel-Mehrheiten nicht benötigt werden und auch keine Sperrposition im Bundesrat haben. Es war vereinbart, dass diese Formel nach der Bundestagswahl 2021 überprüft wird.
Ein großer Umbruch steht an
Eine Vergewisserung über die Vorschlagsrechte ist schon deshalb sinnvoll, weil in den nächsten vier Jahren mehr als die Hälfte der Verfassungsrichter:innen neu gewählt wird. Konkret endet die Amtszeit folgender neun Richter:innen: Andreas Paulus (März 2022), Peter M. Huber (November 2022), Monika Hermanns (November 2022), Susanne Baer (Februar 2023), Gabriele Britz (Februar 2023), Peter Müller (September 2023), Sibylle Kessal-Wulf (Dezember 2023), Josef Christ (November 2024) und Doris König (Juni 2025).
Wenn all diese Richterposten neu besetzt sind, wird damit auch die Rechtsprechung bis weit in die 2030er-Jahre hinein geprägt. Programmieren lässt sich die BVerfG-Rechtsprechung freilich nicht, da die Richter:innen in aller Regel hochgradig unabhängig von der Partei agieren, die sie einst nominierte. Außerdem werden alle neuen Richter:innen schnell vom jeweiligen Senat und seiner Diskussionskultur sozialisiert.
Kandidat:in stellt sich nach Ostern vor
Die Amtszeit von Andreas Paulus endete am 15. März 2022*. Er muss nun aber solange im Amt bleiben, bis der Bundestag einen Nachfolger gewählt hat. Das Vorschlagsrecht liegt aus drei Gründen bei der FDP. Zum einen war der Völkerrechtsprofessor Paulus einst von der FDP nominiert worden. Zweitens war der FDP bei der Vereinbarung der neuen Proporzformel zugesagt worden, dass sie - unabhängig von Ausgang der Bundestagswahl - dieses Vorschlagsrecht behält. Und schließlich war das FDP-Ergebnis bei der Bundestagswahl mit 11,5 Prozent so solide, dass nun niemand das Vorschlagsrecht der Liberalen in Frage stellt.
Bei der Suche nach einem FDP-Vorschlag hat sich Justizminister Marco Buschmann stark engagiert. Inzwischen hat die FDP auch eine Person benannt, die sich bereits bei manchen Fraktionen der Ampel-Koalition vorgestellt hat. Nach Ostern soll sich die Kandidat:in auch den Rechtspolitiker:innen der CDU/CSU präsentieren. Vielleicht kommt dann auch Fraktionschef Friedrich Merz dazu, der ja ebenfalls Jurist ist.
Paulus ist Mitglied im Ersten Senat, dem derzeit vier Männer und vier Frauen angehören. Die FDP könnte also ohne schlechtes Gewissen einen männlichen Nachfolger für Paulus vorschlagen.
Mehr Einfluss für die Grünen?
Eine Paketbildung mit den kommenden beiden Neubesetzungen im Herbst (Nachfolge Huber und Nachfolge Hermanns), für die zufälligerweise auch der Bundestag zuständig ist, ist derzeit nicht geplant. Das ist auch sinnvoll, weil vor Eintritt in den großen Umbruch ja zunächst die Proporzformel für die Vorschlagsrechte evaluiert werden sollte.
Ein Thema könnte dabei sein, dass die Grünen als nun mittelgroße Partei ein drittes Vorschlagsrecht fordern könnten. Mit 14,8 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl und der Beteiligung an zehn Landesregierungen sind sie schließlich deutlich stärker als die FDP mit nur vier Landesregierungen.
Allerdings würde dies wohl zu Lasten der SPD gehen, die sich auf dem Weg zurück zu alter Größe sieht und deshalb wenig kompromissbereit ist. Außerdem stellen die Sozialdemokrat:innen in den Ländern acht Ministerpräsident:innen (das Saarland ist bereits mitgezählt), während die Grünen nur in Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann an der Spitze stehen. Die kommenden Landtagswahlen in NRW und Schleswig-Holstein könnten das Gewicht sogar noch weiter zugunsten der SPD verschieben.
Mehr Einfluss für die FDP
Für Diskussionsbedarf sorgt auch das zweite Vorschlagsrecht der FDP, das sich aus der Formel 3 : 3 : 2 : 1 ergibt. Bisher hatte die FDP nur ein Vorschlagsrecht für den Ersten Senat, künftig kann sie auch ein:e Richter:in für den Zweiten Senat nominieren.
Konkret hat die FDP bereits Anspruch auf die Nachfolge von Peter M. Huber im Herbst geltend gemacht. Das dürfte aber nicht passen, weil der Bayer Huber ein Vorschlag der CSU war und die bayerische Regionalpartei wohl ungern zugunsten der FDP auf ihr Vorschlagsrecht verzichten wird. Naheliegender dürfte es sein, wenn die FDP das Vorschlagsrecht für die Nachfolge Müller (im September 2023) oder die Nachfolge Kessal-Wulf (im Dezember 2023) erhält.
In der Union gibt es überdies Stimmen, die darauf hinweisen, dass die FDP nun ein gemeinsames Lager mit SPD und Grünen bildet und die CDU/CSU deshalb gar kein Vorschlagsrecht an die Liberalen abgeben soll. Allerdings ist die Proporzformel "3 - 3 - 1 - 1" nicht an bestimmte Koalitions-Konstellationen in Bund und Ländern gebunden. Und es wäre auch schwer zu begründen, warum die CDU/CSU mit 24,1 Prozent Wählerstimmen bei der Bundestagswahl die Hälfte der Vorschlagsrechte für die Verfassungsrichter:innen erhalten sollte.
All diese Fragen könnten gut im Lauf des Sommers geklärt werden, bis im November die nächsten Karlsruher Personalentscheidungen anstehen. Aber meist (und derzeit erst recht) sind andere Themen dringender, weshalb schon jetzt damit zu rechnen ist, dass es auch im November zu Verspätungen kommen wird.
* Ein Datum und drei Prozentzahlen zu Wahlergebnissen waren im Artikel zunächst nicht korrekt wiedergegeben. Dies wurde am Veröffentlichungstag (15:10 Uhr) korrigiert.
Verfassungsrichterwahl: . In: Legal Tribune Online, 15.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48173 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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