Einen Menschen "entsorgen", diffamierende Äußerungen gegenüber Politikern: Alle wollen die Freiheit der Meinungsäußerung – und sollen sie auch haben. Doch die Grenze ist die Menschenwürde. Klaus F. Gärditz erklärt die Beschlüsse des BVerfG.
Kommunikationsstrafrecht ist stets ein grundrechtlicher Balanceakt. Das zeigte sich bereits in der Lüth-Entscheidung im Jahr 1958, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich mit Aussagen des damaligen Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth zu befassen hatte (BVerfG, Urt. v. 15.01.1958, Az. 1 BvR 400/51). Lüth hatte zum Boykott des Films eines Regisseurs aufgerufen, der klar dem Nationalsozialismus zuzurechnen war.
Seit dieser Entscheidung verlangt das BVerfG den Fachgerichten ab, die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz, GG) begrenzende Gesetze ihrerseits im Lichte des Grundrechts auszulegen und anzuwenden. Straftatbestände wie Beleidigung (§ 185 StGB) oder Volksverhetzung (§ 130 StGB) erfüllen freilich nicht nur öffentliche Ordnungsfunktionen, sondern dienen zugleich dem Schutz von Würde und Persönlichkeitsrechten Betroffener. Die Schutzaufgabe des Kommunikationsstrafrechts hat angesichts der Verrohung der politischen Kultur und der Eskalationspotentiale der sozialen Medien an Bedeutung gewonnen.
Gleichwohl entstand immer wieder der Eindruck, dass die Rechtsprechung des BVerfG zu Kommunikationsfreiheiten eine wirksame Sanktionierung selbst von massiven Angriffen auf die Persönlichkeit anderer substanziell erschwert. Über den Begründungsaufwand und die Überkomplexität der kasuistisch-filigran ausdifferenzierten Abwägungsanforderungen, die sich stellen, wenn eine Äußerung als unzulässig bewertet werden soll, stolperten die zuständigen Fachgerichte nicht selten.
Wurde hingegen ein Ermittlungsverfahren eingestellt, ein Angeklagter freigesprochen oder eine zivilrechtliche Klage abgewiesen, war meist auf der sicheren Seite, wer die Bedeutung der Meinungsfreiheit – unter Zitation einiger Kammerbeschlüsse des BVerfG – anführte, um eine Äußerung – mit teils sinnentstellenden Deutungsvarianten unterlegt – als zulässig zu bewerten. So wurde etwa die öffentliche Äußerung des Berufspolitikers Alexander Gauland (AfD), der die Hamburger Bundestagsabgeordnete Aydan Özoguz "in Anatolien entsorgen" wollte, von den befassten Organen der Strafrechtspflege nicht – wie naheliegend – als Volksverhetzung bewertet, sondern als migrationspolitischer Debattenbeitrag gröblich verharmlost.
Wertvolle Klarstellungen
Es wäre unfair, das BVerfG für alle bizarren Gerichtsentscheidungen verantwortlich zu machen, in denen – wie im Fall Renate Künast – selbst vulgärste Beleidigungen von Personen des öffentlichen Lebens oder – wie in anderen Fällen – rassistische Diffamierungen, sexistischen Erniedrigungen oder hassgetriebene Vernichtungsphantasien zu legitimen politischen Debattenbeiträge deformiert wurden. Dass die Rechtsprechung des BVerfG jedoch bisweilen den Eindruck erweckt hat, im Zweifel gebühre stets der Meinungsfreiheit Vorrang, wird sich kaum bestreiten lassen.
Nunmehr hat das Gericht in vier parallel veröffentlichten Kammerentscheidungen, die noch maßgeblich aus der Feder des scheidenden Richters Johannes Masing stammen, eine Konsolidierung seiner grundrechtlichen Rechtsprechung zu Äußerungsdelikten vorgenommen (Beschl. v. 19.5.2020, Az. 1 BvR 2459/19; 1 BvR 2397/19; 1 BvR 1094/19; 1 BvR 362/18). Das Gericht reagiert dort mit wichtigen Klarstellungen sehr ausführlich auf implizite Kritik und erläutert eingehend die anzulegende Prüfungsstruktur.
Wenn eine Äußerung, die in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt, zum Finden der Grenze nach Art. 5 Abs. 2 GG am Maßstab eines allgemeinen Straftatbestandes bewertet werden soll, muss im ersten Schritt "eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung" erfolgen. Der Sinngehalt ist also kontextbezogen hinreichend sorgfältig zu ermitteln, wobei die Meinungsfreiheit nicht dazu zwingt, einer Äußerung strafrechtlich harmlose, aber fernliegende Sinngehalte rabulistisch unterzuschieben.
Schutz der Menschenwürde und abwägungsfreie Schmähungen
Grundsätzlich bedarf es einer Güterabwägung, die der Bedeutung der Meinungsfreiheit gerecht wird. "Abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf", so das BVerfG in der Entscheidung 1 BvR 362/18. Das aber ist hinlänglich bekannt.
Weiter entschieden die Richter in Karlsruhe: "Da die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist, muss die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt". Menschenwürdeverletzungen – beispielsweise verbreitete Metaphern, bestimmte Menschen oder Gruppen als Abfall zu entsorgen – sind hiernach – so die Kammer überzeugend – materiell nie rechtmäßig (namentlich auch keiner Abwägung zugänglich). Ein erkennendes Fachgericht muss aber erhöhte Sorgfalt walten lassen, eine solche Würdeverletzung zu begründen.
Der Schutz der Menschenwürde ist nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG nicht nur eine Rechtfertigung von Sanktionen. Er ist auch ein positiver Auftrag an die Strafrechtspflege, staatliche Zwangsmittel aktiv einzusetzen und sich vor die Opfer würdeverletzender Angriffe zu stellen.
Kein pauschaler Vorrang der Meinungsfreiheit
Das Gericht stellt ausdrücklich klar, dass auch Äußerungen, die noch den Schutz der Meinungsfreiheit genießen, nicht automatisch Vorrang gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beanspruchen könnten, so die Richter. "Eine solche Vorfestlegung ergibt sich auch nicht aus der Vermutung zugunsten der freien Rede".
Gerade dies wurde in der Rechtsanwendung immer wieder missverstanden. Obgleich das Gericht auf die für eine Demokratie konstitutive Bedeutung der Meinungsfreiheit hinweist, unterstreicht es, dass die von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung grundsätzlich offen und nicht abschließend verfassungsrechtlich determiniert ist.
Die Kammer erwähnt hierbei wiederholt die Notwendigkeit, sich mit den konkreten Kontexten, nicht zuletzt den verletzungsverstärkenden Kommunikationsbedingungen von Internet und Social Media, und den betroffenen Grundrechten auseinanderzusetzen. Dies bedeutet nicht nur, dass an die Sanktionierung von Meinungsäußerungen hohe Anforderungen zu stellen sind, sondern legt den Organen der Strafrechtspflege auch umgekehrt die Verpflichtung auf, sich nicht – wie häufig der Fall – mit pauschalen Floskeln hinter die Meinungsfreiheit zurückzuziehen, um Vorgänge zu erledigen.
Zulässigkeit von Kritik kein Freibrief für Diffamierungen
Für die vorzunehmenden Abwägungen zeichnet die Kammer einige Leitlinien nach. Das Gewicht der Meinungsfreiheit sei umso höher, je mehr die Äußerung darauf ziele, "einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht".
Der praktischen Möglichkeit von Machtkritik wird zwar zutreffend hohe Bedeutung beigemessen, aber zugleich überzeugend klargestellt, dass diese kein Freibrief ist, andere zu diffamieren oder zu entwürdigen. Einer öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze ziehe die Verfassung äußerungsrechtliche Grenzen und nehme hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträger nicht aus.
Juristisch brauchbare Maßstäbe beseitigen freilich noch keine Durchsetzungsprobleme, die gerade den Umgang mit dem Hass im Internet belasten. Beleidigungen, Verleumdungen und Volksverhetzung sind ein Massenphänomen. Dessen konsequente Sanktionierung überfordert schnell die begrenzten Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden, die auch deutlich schwerere Straftaten aufzuklären haben.
Demokratischer Eigenwert des Kommunikationsstrafrechts
Gleichwohl ist das Kommunikationsstrafrecht nicht wirkungslos. Strafrechtspflege ist immer selektiv. Ihre gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion erfordert keine flächendeckende Aufklärung und Verfolgung. Die verletzten Normen können auch dann hinreichende soziale Bestätigung erfahren, wenn nur regelmäßig sanktioniert wird und die Kriterien der Verfahrenseinstellung sachgerechten, transparenten Erwägungen folgen.
Nicht immer hassen zudem Trolle anonym im Internet. Oft nehmen sich Täter ostentativ heraus, offen zu hetzen, weil man die Meinungsfreiheit als Grundrecht missversteht, alles auf jede Weise sagen zu dürfen. Nicht zuletzt dort, wo sich politische Kräfte oder Feuilletonsparten einer sprachlichen Eskalationskultur der Social Media annähern, um schnelle Aufmerksamkeit zu erlangen, kann das Meinungsstrafrecht wirksam Grenzen markieren.
Hierbei geht es jeweils um öffentliche Foren, die in viel stärkerem Maße als die Filter Bubbles geschlossener Internethinterhöfe Einfluss darauf haben, die Grenzen des Sagbaren im öffentlichen Raum zu prägen. Gezielte Strafverfolgung von Hass und Hetze dient dann letztlich dem Schutz basaler Funktionsbedingungen einer freiheitlichen Demokratie, die auch von einer Debattenkultur abhängt, die bei aller Differenz in der Sache die Würde und den Achtungsanspruch aller Menschen respektiert.
Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.
BVerfG zu Meinungsäußerung und Menschenwürde: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41968 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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