Bei der Bundestagswahl im September werden die Regeln der umstrittenen Wahlrechtsreform angewendet werden. Das steht nach einer am Freitag veröffentlichten Entscheidung des BVerfG fest.
Mit am Freitag veröffentlichtem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung von 216 Abgeordneten aus den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und FDP abgelehnt (Beschl. v. 20.07.2021, Az. 2 BvF 1/21). Die Antragstellerinnen und Antragsteller wollten erreichen, dass die von der großen Koalition im Oktober 2020 beschlossenen Änderungen des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) bei der Bundestagswahl im September nicht angewendet werden.
Dem hat das BVerfG jetzt einen Riegel vorgeschoben. Der Normenkontrollantrag sei zwar weder von vornherein unzulässig noch unbegründet. Die Karlsruher Richterinnen und Richter entschieden jedoch, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe nicht derart überwägen, dass ein Eingriff in die Zuständigkeit des Gesetzgebers gerechtfertigt wäre.
Die Reform der großen Koalition war im Oktober 2020 mit dem Zweck verabschiedet worden, den auf 709 Abgeordnete angewachsenen Bundestag wieder zu verkleinern. Viele Fachleute bezweifelten jedoch die Wirksamkeit der beschlossenen Maßnahmen. So sollte es nach den neuen Regeln zunächst bei 299 Wahlkreisen bleiben, Überhangmandate einer Partei sollen teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet werden. Beim Überschreiten der Regelgröße des Bundestags von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.
Faktische Auswirkungen bis zum Ende der Legislaturperiode
Nach Ansicht des BVerfG könnten die vorgesehenen Neuregelungen des BWahlG zwar in der Tat gegen das Bestimmtheitsgebot sowie das Gebot der Normenklarheit verstoßen und möglicherweise die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien verletzen. Bei einer Partei, die einen unausgeglichenen Überhang erzielt, entfallen dann auf jeden ihrer Sitze weniger Zweitstimmen als bei einer Partei, der dies nicht gelingt.
Die Folgenabwägung, die das BVerfG in seiner Entscheidung vorgenommen hat, spreche jedoch nicht für einen Eingriff in die Zuständigkeit des Gesetzgebers. Erweise sich das neue Sitzzuteilungsverfahren später wirklich als verfassungswidrig, hätte dies bei der kommenden Bundestagswahl zwar einen erheblichen Eingriff unter anderem in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien zur Folge, wie auch die Karlsruher Richterinnen und Richter sehen. Würde aber die einstweilige Anordnung erlassen, wäre § 6 BWahlG in der bis zum 18. November 2020 geltenden Fassung anzuwenden – und das hätte zur Folge, dass der Bundestag noch größer als bisher würde.
Nach § 6 Abs. 5 BWahlG a.F. würden die "Quasi-Überhangmandate" nämlich aus der ersten Verteilung vollumfänglich ausgeglichen. Wenn es die einstweilige Anordnung nun erlasse und sich der Normenkontrollantrag später als unbegründet entpuppe, dann entstünden Ausgleichsmandate gegen den Willen des Gesetzgebers, so das BVerfG. Zudem schüfe die einstweilige Anordnung nicht lediglich einen vorläufigen Zustand bis zur Entscheidung über die Hauptsache. Vielmehr entfalte die Nichtanwendung der Neuregelung auf die Bundestagswahl 2021 faktisch bis zum Ende der Legislaturperiode Wirkung. Aus diesen Gründen fehlt es nach Auffassung des Verfassungsgerichts an einem eindeutigen Überwiegen der Gründe für den Erlass der einstweiligen Anordnung.
Das Hauptsacheverfahren läuft noch. Bei dem jetzt beschiedenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ging es ausschließlich darum, zu beurteilen, ob die neuen Regeln bei der Bundestagswahl angewandt werden dürfen. Jetzt steht fest, dass dies der Fall ist.
Mit Materialien der dpa
Streit um Wahlrechtsreform: . In: Legal Tribune Online, 13.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45725 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag