Bundestag schrumpfen um jeden Preis? Der Gesetzgeber hat bei der Wahlrechtsreform seine Überwachungspflichten vernachlässigt – und die Fünf-Prozent-Sperrklausel ist dadurch möglicherweise verfassungswidrig geworden.
Der Deutsche Bundestag hat seit Juni ein neues Wahlrecht. Bei allen eingeführten Neuerungen, geblieben ist ein Grundpfeiler des Wahlsystems, die Fünf-Prozent-Hürde, jetzt geregelt in § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG). Parteien mit weniger Stimmen bleibt der Zugang zum Parlament verwehrt. Eben gegen diese Hürde richtet sich eine vor wenigen Tagen eingereichte Verfassungsbeschwerde. Über 4.000 Bürger, vom Verein "Mehr Demokratie e.V." organisiert, wenden sich mit der Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Sie sind der Meinung, dass die Wahlrechtsreform die Wirkung der Sperrklausel verschärfe und fordern deren Streichung. Vertreten wird die Initiative von Staatsrechtler Prof. Thorsten Kingreen von der Uni Regensburg.
BVerfG hat die Sperrklausel nicht beanstandet – bislang
Mit der Wahlrechtsreform stellt sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel erneut und womöglich verschärft.
Auf den ersten Blick könnte man gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde zwar einwenden, dass die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel bereits seit langem durch das BVerfG geklärt sei. Denn die 5-Prozent-Sperrklausel gilt – nahezu ohne Änderungen – schon seit der zweiten Wahl zum Bundestag im Jahr 1953. Sie wurde damals vom BVerfG gebilligt [BVerfGE 6, 84 ff.] und ist seitdem verfassungsgerichtlich nicht mehr grundlegend in Frage gestellt worden.
Ob aber eine Sperrklausel verfassungsgemäß ist, beurteilt sich nach den jeweils aktuellen tatsächlichen und rechtlichen Umständen. Dies machte das BVerfG in seiner Entscheidung zum Bundestagswahlrecht von 1990 deutlich. Damals war zu entscheiden, ob die bundesweit geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel auch unter den Bedingungen der ersten gesamtdeutschen Wahl nach der Wiedervereinigung verfassungsmäßig war. Das Gericht verneinte dies und betonte, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl "nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden könne", sondern dass die konkreten Verhältnisse, unter denen sie gelten soll, zu berücksichtigen seien [BVerfGE 82, 322 LS 2].
Diese Verhältnisse haben sich mit der Wahlrechtsreform vom Juni dieses Jahres erneut geändert. Das zentrale Ziel der Reform, die Zahl der Bundestagsabgeordneten auf die gesetzlich vorgesehene Anzahl von 630 gem. § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG zu begrenzen, wird, vereinfacht gesagt, angestrebt, indem nur noch so viele Direktmandate an eine Partei vergeben werden, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen. Überhang- und Ausgleichsmandate, die für Bundestage in Rekordgröße gesorgt haben, können so vermieden werden.
Damit hat sich das normative Umfeld der Sperrklausel in relevanter Weise geändert, denn sie beeinträchtigt die Gleichheit der Wahl nun deutlich stärker: Dass für den Gewinn eines Direktmandates jetzt eine Deckung durch Zweitstimmen erforderlich ist, führt dazu, dass nur noch solche in ihrem Wahlkreis siegreichen Kandidaten in den Bundestag einziehen, deren Partei bundesweit die Fünf-Prozent-Sperrklausel überwindet. Weniger erfolgreiche Parteien finden bei der Sitzverteilung keine Berücksichtigung.
Zudem ist auch die die Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 3 BWahlG a.F.) gestrichen worden. Diese bot bisher für Parteien einen alternativen Weg, trotz Unterschreiten der Fünf-Prozent-Hürde nach dem Maß ihres Zweitstimmenanteils im Bundestag Mandate zu erringen, und zwar, indem sie mindestens drei Wahlkreise gewinnen. Von dieser Möglichkeit profitierten 1957, 1994 und zuletzt im Jahr 2021 Parteien, im letzten Fall Die Linke, die so gegenwärtig in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten ist.
Es besteht also Anlass für das BVerfG, sich mit der Frage der Sperrklausel bei Bundestagswahlen erneut zu befassen.
Ob dies dazu führt, dass die Sperrklausel vom Gericht aufgehoben wird, ist zwar unsicher. Die Beschwerde führt dafür aber immerhin beachtliche Argumente ins Feld und zielt dabei – neben inhaltlichen Gründen, die gegen die Sperrklausel sprechen – auch auf einen möglichen Verfahrensmangel bei der Gesetzgebung.
Hat der Gesetzgeber seine Überwachungspflicht verletzt und muss nachbessern?
Bereits seit langem hat das BVerfG herausgearbeitet, dass eine Sperrklausel nur zulässig ist, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Der Gesetzgeber muss also eine Prognose treffen, ob und in welcher Höhe eine Sperrklausel erforderlich ist, um diese Funktionsfähigkeit zu sichern. Weil jedoch die konkreten Umstände, unter denen eine Sperrklausel gilt, sich ändern können, muss der Gesetzgeber sie permanent beobachten und prüfen, ob und in welcher Höhe eine Sperrklausel weiterhin erforderlich ist [BVerfGE 120, 82 (108)]. Ihn trifft also eine Art ständiger Überwachungspflicht [BVerfGE 120, 82 (108)]. Abstrakte oder von der Gegenwart losgelöste Erwägungen, wie etwa das seit langem historisch entkräftete Argument, schon die Weimarer Republik sei an einer zu großen Parteienzersplitterung zugrunde gegangen, sind dabei unzureichend.
Mit der ständigen Überwachungspflicht soll nämlich gewährleistet werden, dass die Gleichheit der Wahl nur in dem dafür jeweils erforderlichen Maße eingeschränkt wird. Zu Recht weist die Beschwerdeschrift von "Mehr Demokratie" darauf hin, dass der Gesetzgeber in dieser Hinsicht seit langem säumig ist. Er hat die Sperrklausel auch bei der jüngsten Wahlrechtsreform nicht auf den Prüfstand gestellt und ist somit belastbare Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit einer Sperrklausel schuldig geblieben. Denkbar ist, dass das BVerfG die Sperrklausel aus diesem Grund aufhebt, was dem Gesetzgeber immerhin eine Chance eröffnen würde, seine Hausaufgaben in einem zweiten Anlauf doch noch zu machen.
Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob der Gesetzgeber bei der gebotenen Überprüfung denn hinreichende Anhaltspunkte finden würde, um eine fünfprozentige Sperrklausel zu rechtfertigen. Die Beschwerdeschrift geht im Gegenteil davon aus, dass eine Fünf-Prozent-Sperrklausel bereits nicht erforderlich sei und unterfüttert dies vor allem mit den hypothetischen Resultaten der Bundestagswahlen von 1953 bis 2021 bei einer angenommenen Sperrklausel von lediglich drei Prozent. Das Ergebnis: In den meisten Fällen hätte sich die Zusammensetzung des Bundestages nicht geändert. Für die Wahlen 2002 und 2013 hätte es zwar einen Unterschied gemacht; das hätte aber – so die Beschwerdeschrift – die Möglichkeiten, eine stabile Regierung zu bilden, nicht beeinträchtigt. Dem lässt sich entgegenhalten, dass bei solchen Betrachtungen nur die Zusammensetzung des Bundestages bei dem historisch gegebenen Stimmverhalten untersuch wird, die Auswirkungen einer geänderten Sperrklausel auf das Stimmverhalten – die sogenannte psychologische Vorwirkung – aber ausgeklammert bleibt. Immerhin erkennt die Beschwerdeschrift diesen Schwachpunkt und verweist ergänzend auf politikwissenschaftliche Untersuchungen, die nahelegen, dass eine Sperrklausel von nur drei Prozent Höhe den besten Kompromiss zwischen Schonung der Wahlgleichheit und Verringerung der Anzahl im Parlament vertretener Parteien darstelle. Ob dies für das BVerfG reicht, eine anderslautende Prognose durch den Gesetzgeber auszuschließen, die sich eventuell auf andere Anhaltspunkte stützt, ist fraglich. Allerdings trägt der Gesetzgeber eben zunächst die Darlegungslast und muss die Grundlagen seiner Prognose offenlegen.
Gefahr von Klausel-Experimenten
Das vielleicht stärkste materielle Argument der Verfassungsbeschwerde ist, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Verbund mit den übrigen Reformbestandteilen die Integrationsfunktion der Bundestagswahl unangemessen beeinträchtige. Es droht nämlich die Gefahr, dass relevante politische Minderheitenanliegen im Parlament nicht abgebildet werden. Dies zeigt die Beschwerdeschrift außer am Beispiel der Linken auch am Beispiel der CSU. Es ist nicht unrealistisch, dass diese bei der kommenden Bundestagswahl in nahezu allen bayrischen Wahlkreisen die meisten Stimmen erhält, aber dennoch wegen der Beibehaltung der Sperrklausel und der Streichung der Grundmandatsklausel nicht in den Bundestag einzieht. Dass somit eine starke regionale politische Kraft nicht mehr im Bundestag vertreten sein könnte, lässt in der Tat befürchten, dass die Integrationsfunktion der Bundestagswahl unangemessen beeinträchtigt wird.
Man darf gespannt sein, was der Bundestag und die Bundesregierung zur Verteidigung der Sperrklausel vortragen werden. Eine denkbare Argumentation könnte sein, die große Bedeutung eines funktionsfähigen, d.h. zur Bildung stabiler Mehrheiten fähigen Bundestages zu betonen und in dem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Experimente mit der Sperrklausel besonders gefährlich seien. Denn ein einmal in seiner Funktion gestörter Bundestag könnte möglicherweise die Sperrklausel nicht erneut einführen.
Das BVerfG hat mit der von "Mehr Demokratie" organisierten Verfassungsbeschwerde jedenfalls einen guten Anlass, dem Wahlgesetzgeber seine Pflicht zur Überwachung von Sperrklauseln einzuschärfen und sich – seit langer Zeit zum ersten Mal wieder – mit dieser Beeinträchtigung der Wahlgleichheit auch inhaltlich zu befassen.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR Rechtsanwälte in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
Verfassungsbeschwerde gegen Fünf-Prozent-Klausel: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53009 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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