SPD, Grüne und FDP wollen den Bundestag von 736 auf 598 Sitze verkleinern und haben hierfür einen ersten Vorschlag präsentiert. Die daran geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken teilt Staatsrechtler Florian Meinel nicht.
Die angestrebte Reform des Bundestagswahlrechts ist weit über das eigentliche Ziel – die Verkleinerung des Bundestages – hinaus zu einer Prinzipienfrage der inneren Reformfähigkeit des politischen Systems geworden. Entsprechend groß sind die Erwartungen an die Kommission zur Reform des Wahlrechts, die der Deutsche Bundestag im März eingesetzt hat. Sie soll bis Ende August einen Zwischenbericht mit Empfehlungen zur effektiven Verkleinerung des Bundestages und spätestens bis Mitte 2023 ihren Abschlussbericht vorlegen.
Dabei ist das zu lösende Problem an sich überschaubar: Die Direktwahl der Wahlkreiskandidaten mit der Erststimme nach § 5 Bundeswahlgesetz (BWG) führt bei gleichzeitiger Repräsentation nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gemäß der Zweitstimme (§ 6 Abs. 1 BWG) erst zu sogenannten Überhangmandaten (§ 6 Abs. 4 BWG), weil die schwächelnden Volksparteien zwar noch Wahlkreise gewinnen, aber nicht mehr nur in die Nähe früherer Zweitstimmenergebnisse kommen. Die dadurch verzerrten Mehrheitsverhältnisse werden sodann in einem etwas umständlichen Mechanismus durch Ausgleichsmandate (§ 6 Abs. 5 bis 7 BWG) wieder korrigiert. Im gegenwärtigen Deutschen Bundestag sind diese Regelungen für 134 Mandate verantwortlich, die zu der ohnehin schon hohen Zahl der gesetzlichen Mitglieder (598) hinzukommen.
Radikallösungen wie ein reines Verhältniswahlrecht ohne Wahlkreise will zu Recht niemand. Die Wahlkreiskandidatur und das Recht der lokalen Kandidatenaufstellung sind nicht zuletzt für die lokale Verwurzelung des deutschen Parteiensystems allzu zentral. Wahllisten werden dagegen von überörtlichen Parteiführungen gemacht und auf Landesparteitagen beschlossen.
"Zahl der Wahlkreise zu senken, würde Unruhe produzieren"
Deswegen gibt es logisch nur drei Möglichkeiten, das Problem zu beheben. Rechtlich und politisch ausgeschlossen ist die erste davon, nämlich die Abschaffung der Ausgleichsmandate. Sie ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn sie eine relevante Dimension hat. Außerdem nutzt sie nach Lage der Dinge fast ausschließlich der Union und ist in den Mehrheitsverhältnissen des 20. Deutschen Bundestages deswegen auch politisch ohne jede Chance.
Realistisch sind damit nur zwei Wege: Der eine ist einmal die Senkung der Zahl der Wahlkreise. Das produziert aber viel Unruhe und Streit auf lokaler Ebene und bringt wenig, wenn die Reduktion nicht geradezu drastisch ist. Die schon in der vergangenen Wahlperiode beschlossene Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 280 dürfte zwar einen gewissen Effekt haben. Fallen aber gleichzeitig die drei unausgeglichenen Überhangmandate wieder weg, ändert sich die Ausgangslage im Ergebnis nicht wesentlich.
Bleibt also eine dritte Möglichkeit. Sie besteht darin, die direkte Wahl in den Wahlkreisen rechtlich unter den Vorbehalt zu stellen, dass die Mehrheitsverhältnisse nicht verzerrt werden. Der Gewinner der relativ meisten Erststimmen ist nach diesem Modell, das die Obleute der Koalitionsparteien der Reformkommission des Deutschen Bundestages kürzlich vorgeschlagen haben, nur direkt gewählt, solange das Kontingent an Sitzen nicht erschöpft ist, das seiner Partei nach dem Ergebnis der Listenwahl zusteht. Hat in einem Bundesland eine Partei nach Zweitstimmen beispielsweise Anspruch auf die Zuteilung von 17 Mandaten, aber in 18 Wahlkreisen die meisten Erststimmen, ist der Wahlkreisbewerber mit dem relativ geringsten Wahlkreisstimmenanteil nicht gewählt.
Ersatzstimmen- statt Kappungsmodell
Was geschieht stattdessen? Entweder wird dieses frühere Überhangmandat dann schlicht nicht zugeteilt ("Kappungsmodell") oder es wird durch eine zusätzliche Regel die ausnahmslose Repräsentation aller Wahlkreis erhalten. So kann man das Kappungsmodell ergänzen, indem mit einer für diesen Fall abgegebenen dritten Stimme einer der anderen Wahlkreisbewerber als Wahlkreisabgeordneter bestimmt wird ("unechtes Ersatzstimmenmodell"“). Oder aber es wird anstelle des nach Wahlkreisstimmen Erstplatzierten vielmehr der Zweitplatzierte auf dessen eigene Landesliste angerechnet ("verbundene Mehrheitsregel").
Dieses Modell in der Ersatzstimmenvariante hat der Heidelberger Staatsrechtler Bernd Grzeszick kürzlich bei LTO mit markigen Worten als "evident verfassungswidrig" kritisiert, weil es "in verschiedener Hinsicht gegen zentrale wahlrechtliche Vorgaben des Grundgesetzes" verstoße. Die Argumente, die er dafür anführt, entsprechen aber weder dem Stand der wahlrechtlichen Diskussion noch können sie verfassungsrechtlich überzeugen.
Sie beruhen teils auf Topoi der Rechtsprechung des BVerfG, die ohne ihren Kontext aufgerufen werden, teils auf einer nicht sachgerechten Darstellung des Reformvorschlags und teils auf politischen Unterstellungen. So erscheint es wenig überzeugend, wenn Grzeszick am Anfang und Ende seines Textes der Ampelkoalition den Vorwurf macht, überhaupt einen Vorschlag gemacht, statt auf die Arbeit der Reformkommission des Bundestages gewartet zu haben – der Grzeszick im Übrigen selbst als Sachverständiger angehört. Warum soll es anrüchig sein, wenn gewählte Politiker der Regierungskoalition Gesetzgebungsvorschläge machen?
"Gleichheit der Wahl nicht verletzt"
Wenig überzeugend ist zunächst das Argument, die Gleichheit der Wahl sei verletzt, weil die Wahl in Wahlkreisen von einem externen Faktor, nämlich der Listendeckung, abhängig gemacht wird.
Diese Abhängigkeit von Faktoren, die einzelne Wählerinnen und Wähler nicht beeinflussen können, gibt es schon heute an vielen Stellen im Bundestagswahlrecht. Welche der Personen, die auf der von einem Wähler gewählten Parteiliste stehen, letztlich erfolgreich sind, entscheidet sich beispielsweise nach § 6 Abs. 4 S. 1 BWG fast ausschließlich in Wahlkreisen, in denen dieser Wähler selbst nicht wählt. Niemand hat aber deshalb je die Listenwahl für verfassungswidrig gehalten. Die dahinterstehende Auffassung, die relative Mehrheitswahl im Wahlrecht sei durch das Demokratieprinzip in jedem Fall garantiert, entspricht nicht der Rechtsprechung des BVerfG, das vielmehr immer wieder ausgesprochen hat, dass sogar der Übergang zu einem reinen Verhältniswahlrecht und die Abschaffung der Wahlkreise zulässig wären. Für das in der Praxis völlig irrelevante Problem parteiloser Wahlkreisbewerber lassen sich leicht Ausnahmeregelungen finden.
Vor allem aber beruht Grzeszicks Argumentation auf der verbreiteten und von interessierten Kreisen oft weiter genährten Fehlvorstellung, Erst- und Zweitstimme hätten nach geltender Rechtslage nichts miteinander zu tun und erst der Reformvorschlag durchbreche die Selbständigkeit der Wahlkreiswahl gegenüber der Listenwahl.
"Doppelrolle" des Wahlkreisbewerbers
Schon heute werden aber die Wahlkreisergebnisse auf die Listen angerechnet, so dass Listenbewerber das Nachsehen haben, wenn die Wahlkreisbewerber ihrer Partei erfolgreich sind (§ 6 Abs. 4 BWG). Schon heute ist deswegen der politische Sinn der Erststimme höchst eng und manchmal paradox mit der Listenwahl verknüpft. Geht man unbefangen von dieser Rechtslage aus, so vervollständigt der Koalitionsvorschlag jene Verknüpfung nur in umgekehrter Richtung, nämlich von den Listen hin zu den Wahlkreisen, indem sie sagt: Wahlkreisbewerber können nur gewählt werden, wenn die hinter ihnen stehende Liste erfolgreich genug ist. Damit ist die politische Doppelrolle des Wahlkreisbewerbers als Person und Parteikandidat recht treffend ausgedrückt.
Dass Grzeszick dieses Modell als Wahlkreisrepräsentation durch "Verlierer" abwertet, ist ein rein politisches Argument ohne verfassungsrechtliche Relevanz: Wer Sieger und wer Verlierer ist, ist in einem demokratischen System durch die Wahlregeln bestimmt und nicht Gegenstand einer freien Meinungsbildung über sie. Mit dem gleichen Recht könnte man auch die Wahlkreissieger, die heute ihre Wahlkreise mit bisweilen nur 25 Prozent der Erststimmen gewinnen, als Verlierer bezeichnen, weil drei Viertel gegen sie gestimmt haben.
"Ersatzstimmenmodell gewährleistet Repräsentation aller Wahlkreise"
Nicht stichhaltig sind darüber hinaus auch Grzeszicks Einwände gegen das unechte Ersatzstimmenmodell. Es geht hier auch nicht um das Eingemachte der demokratischen Wahl ("Demokratieprinzip, Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit der Wahl"). In Wahrheit ist es in dem von der Koalition vorgeschlagenen Modell eher eine sekundäre Frage. Die Ersatzstimme ist nämlich neben dem Kappungsmodell und der verbundenen Mehrheitsregel nur eine von drei Möglichkeiten, die Frage zu klären, wie der Wahlkreis, der unter dem bisherigen Wahlrecht das Überhangmandat produziert, repräsentiert ist.
Die Ersatzstimmenlösung wertet das lokale Recht der Kandidatenaufstellung in den wichtigen und umkämpften Wahlkreisen auf, macht aber die Abstimmung sehr kompliziert. Ebenso wie die praktisch sehr viel schlankere verbundene Mehrheitsregel kann sie allen Wahlkreisen die parlamentarische Repräsentation sichern. Mit dem eigentlichen Ziel der Reform, einer Verkleinerung des Bundestages, hat das Ersatzstimmen-Modell auch nur indirekt zu tun. Die Verkleinerung des Bundestages beruht nach dem Modell der Ampel-Obleute allein darauf, künftig keine Überhangmandate und damit keine Ausgleichsmandate mehr entstehen zu lassen. Das Ersatzstimmenmodell bietet nur eine Gewähr dafür, dass alle Wahlkreise zumindest einen Abgeordneten stellen und die politische Repräsentation somit geographisch und landsmannschaftlich ausgeglichener bleibt. Ob man das für wichtig hält oder ein anderes Modell für überzeugender hält, ist von der Koppelung der Wahlkreise an die Zweitstimmen ganz unabhängig.
"Grundsatzfrage: Koppelung der Wahlkreise an Zweitstimmen"
In einem Wahlrecht, in dem das maßgebliche Kriterium für die Beurteilung der Chancen- und Erfolgswertgleichheit allein die unverzerrte proportionale Repräsentation ist, lassen sich alle diese drei Modelle verfassungskonform ausgestalten. Anstoß hat das BVerfG bisher ausschließlich an Regelungen genommen, die die Ergebnisse der bundesweiten Verhältniswahl aus welchen Gründen auch immer verzerren, aber nie an Regelungen, die ihr zur Durchsetzung verhelfen.
Für die weitere Arbeit der Bundestagskommission kommt es daher zunächst nicht auf die sekundäre Frage "Ersatzstimme, Kappungsmodell oder verbundene Mehrheit?" an, sondern auf die Grundsatzfrage der Koppelung der Wahlkreise an die Zweitstimmen. Sie ist nicht nur verfassungsrechtlich machbar, sondern ein überzeugender Vorschlag für eine Reform, die den Mut hat, aus den jahrzehntelangen Denkgewohnheiten der Welt der zwei Volksparteien mit kleinen Anhängseln herauszutreten.
Dazu wäre es aber hilfreich, den Vorschlag nicht nur als Reparatur eines aufgestauten Problems zu vermarkten, sondern mit einer demokratischen Begründung zu versehen. Er würde nämlich unter den Gegebenheiten eines Verhältniswahlrechts, eines fragmentierten Parteiensystems und immer geringerer Erststimmenmehrheiten die demokratische Legitimation der Wahlkreise nicht schwächen, sondern gerade stärken.
Prof. Dr. Florian Meinel ist Inhaber des Lehrstuhls für Staatstheorie, Vergleichendes Staatsrecht und Politische Wissenschaften an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen und forscht im akademischen Jahr 2021/2022 als Mercator Senior Fellow an der Harvard Law School in Cambridge, Massachusetts.
Diskussion über neues Bundestagswahlrecht: . In: Legal Tribune Online, 31.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48599 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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