Zu Wirtschaftswunderzeiten geschaffen, um Arbeitnehmerrechte zu stärken, hemmt das BetrVG heutzutage die dringend notwendige digitale Zusammenarbeit der Betriebsparteien, meint Tobias Neufeld.
Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), eine Dampfmaschine in der Ära der Digitalisierung, stößt bei der Anpassung an die Anforderungen moderner, digitaler Betriebsratsarbeit zunehmend an seine Grenzen. Ein zentrales Problem ist die Notwendigkeit physischer Präsenz und einer schriftlichen Form für bestimmte Prozesse. Das BetrVG verlangt oft eine physische Anwesenheit, was mit den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation in Konflikt steht. Dies betrifft zum Beispiel die Abhaltung von Betriebsversammlungen und Betriebsratssitzungen oder die Beschlussfassung in Einigungsstellen. Zudem müssen Betriebsvereinbarungen traditionell schriftlich verfasst und von beiden Parteien unterzeichnet werden. Für die Unterrichtung des Betriebsrates, etwa im Rahmen von Einstellungen, fordert das Gesetz ebenso noch Schriftlichkeit und physische Dokumente.
Hier kollidiert eine historisch gewachsene, analoge Gesetzesstruktur mit den Erfordernissen einer modernen Arbeitswelt, die mit Big Data, Künstlicher Intelligenz und Sprachmodellen wie ChatGPT längst das nächste Kapitel der Digitalisierungsgeschichte aufgeschlagen hat.
Dabei gab es in der Corona-Pandemie pragmatische und gute Lösungen für eine digitale Betriebsrätearbeit– die jedoch befristet waren und blieben. So war einer der wenigen positiven Effekte der Pandemie die Einführung des § 129 BetrVG im Mai 2020. Den Betriebsräten war hierdurch eine Möglichkeit geschaffen worden, Betriebsversammlungen nach den §§ 42, 53 und 71 BetrVG online per Videokonferenz abzuhalten. Darüber hinaus konnten auch bei Einigungsstellen die Sitzungen und die Beschlussfassung mittels einer Video- oder Telefonkonferenz erfolgen. Diese befristete Regelung ist jedoch am 7. April 2023 abgelaufen und somit nicht mehr gültig. Den zahlreichen Rufen nach einer Verlängerung beziehungsweise permanenten Übernahme ins BetrVG ist der Gesetzgeber nicht gefolgt.
Nur Ansätze einer Digitalisierung
Das derzeitige BetrVG lässt an einigen Stellen lediglich Ansätze der Digitalisierung erblicken. Diese sind vornehmlich auf das Betriebsrätemodernisierungsgesetz, welches am 18. Juni 2021 in Kraft getreten ist, zurückzuführen. So findet beispielsweise die Betriebsratssitzung zwar grundsätzlich und vorrangig in Präsenz statt – unter den wiederum förmlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BetrVG ist eine Teilnahme mittels Video- und Telefonkonferenz jedoch möglich.
Während der Gesetzgeber also weitgehend untätig bleibt, schreitet die Rechtsprechung zur Tat: So hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Sachsen-Anhalt einen Schritt in Richtung Digitalisierung der Betriebsratsarbeit gewagt (Beschl. v. 13.10.2022, Az. 2 TaBV 1/22). Danach müssen Arbeitgeber dem Betriebsrat natürlich unverändert über Bewerber informieren, § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Die Vorlage der erforderlichen Bewerbungsunterlagen muss nach dem LAG aber nicht in Papierform erfolgen, da es hierfür an einem nachvollziehbaren Grund fehle. Vielmehr müsse sich der Betriebsrat nur jederzeit die erforderlichen Kenntnisse verschaffen können. Für die Information des Arbeitgebers über eine Einstellung genüge es daher, wenn die Betriebsratsmitglieder umfassende Einsichtsmöglichkeiten in ein digitales Bewerbermanagement-Tool über ihre dienstlichen Computer erhalten.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Rechtsbeschwerde des Betriebsrates gegen den Beschluss des LAG in diesem Verfahren teilweise zurückgewiesen und zum anderen Teil das Verfahren eingestellt (Beschl. vom 13.12.2023, Az. 1 ABR 28/22). Hier wird die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe Aufschluss darüber geben, ob die "Unterlagen" im Sinne von § 99 BetrVG digital sein dürfen, oder ob es weiterhin Papier sein muss.
Anhörung zur Wiedereinführung Online-Betriebsratswahl
Eine bedeutsame Reform des BetrVG strebt die CDU/CSU-Fraktion an. Ihr Antrag an den Bundestag zielt vor allem darauf ab, den Regelungsinhalt des § 129 BetrVG wiederherzustellen und ein Online-Wahlverfahren zu Betriebsratswahlen und den Wahlen nach dem Sprecherausschussgesetz optional zu ermöglichen. Als Vorbild für das Online-Wahlverfahren sollen hierbei die Sozialwahlen in der gesetzlichen Krankenversicherung gelten. Schließlich soll ein digitales Zugangsrecht für die Betriebsräte zu den Informationskanälen des Betriebes eingeführt werden.
Anfang November 2023 fand auf Grundlage dieses Antrags eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Bundestag statt. Bereits bei Einführung des § 129 BetrVG im Jahr 2020 hatten sich Stimmen in der Literatur gegen dessen Regelungsinhalt ausgesprochen – insbesondere sei die Videokonferenz nicht mit einer Betriebsratssitzung im traditionellen Sinne vergleichbar. Argumente hierfür waren unter anderem, dass die Nichtöffentlichkeit der Verhandlungen nicht gesichert sei und die tatsächliche Kommunikation während der Sitzung aufgrund zahlreicher Faktoren beeinträchtigt und eingeschränkt werde. Dies gelte vor allem dann, wenn sensible Themen besprochen würden.
Vergleichbare Stimmen und Argumente sind nun auch im Rahmen der öffentlichen Anhörung wieder laut geworden. Eine ähnliche Skepsis herrscht gegenüber den Online-Wahlen: Diese sollen aus Sicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) immer nur als "dritte Option" neben Wahlen in Präsenz und der Briefwahl ermöglicht werden. Es bleibt also abzuwarten, in welche Richtung sich diese Diskussion entwickeln wird und ob der Antrag Umsetzungschancen hat.
Betriebsratsarbeit der Dynamik anpassen
Eine weitere Digitalisierung im BetrVG ist unumgänglich, um den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt gerecht zu werden, insbesondere aber, um die Betriebsratsarbeit auf dasselbe digital-dynamische Niveau zu heben, mit dem Arbeitgeber bereits heute arbeiten und das im Sinne von Unternehmen und Belegschaft insgesamt ist. Die physische und zeitliche Entkopplung der Arbeit als Mobile Work bedingt auch die Reform analoger und physischer HR-Prozesse. Der Siegeszug digitaler HR-Self-Service Lösungen beweist das eindrücklich.
Digitale Prozesse würden eine effizientere, flexiblere und transparentere Betriebsratsarbeit ermöglichen, was insbesondere in einer von Mobilität und Flexibilität geprägten Arbeitsumgebung entscheidend ist. Sie fördern die Teilnahme und das Engagement der Betriebsratsmitglieder, insbesondere in größeren Unternehmen oder bei verteilten Standorten.
Die Pandemie hat die Notwendigkeit und Funktionalität digitaler Lösungen unterstrichen und die Kontinuität der Betriebsratsarbeit gewährleistet. Digitalisierung erhöht Teilhabe und Wirkmächtigkeit im Betriebsratsgremium und schließt physische Lösungen nicht aus. Dass die Digitalisierung der Betriebsratsarbeit zugleich die signifikante Verbesserung des Schutzes personenbezogener Daten durch ein Datenschutz-Management-System mit effektivem Löschkonzept, Datenminimierung und Datensicherheit mit sich bringt, dürfte in vielen Betrieben ein wichtiger Nebeneffekt sein.
Der Autor Tobias Neufeld, LL.M. ist als Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der ARQIS HR.Law Fokusgruppe in Düsseldorf spezialisiert auf Digital- und Datenthemen im Betrieb. Er berät nationale und internationale Unternehmen an den Schnittstellen von Arbeitsrecht und Beschäftigtendatenschutz.
Anhörung zu Digitalisierung im BetrVG: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53484 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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