Arbeitgeber dürfen die Einführung eines neuen Tarifwerks nicht mehr vom Neuabschluss von Arbeitsverträgen abhängig machen. Die bisherige Praxis ist nach dieser Entscheidung des BAG wirkungslos.
Rund zwei Monate lang war es still in den Sitzungssälen des Bundesarbeitsgerichts (BAG): Aufgrund der COVID-19-Pandemie musste auch das höchste deutsche Arbeitsgericht seinen Sitzungsbetrieb unterbrechen. Mit einer Entscheidung zu den Grenzen der tariflichen Regelungsmacht (BAG, Urt. v. 13.5.2020, Az. 4 AZR 489/19) sind die Erfurter Richter in den Sitzungsbetrieb zurückgekehrt.
In der Sache hatte das BAG zu entscheiden, ob die Parteien eines Tarifvertrages – also die Gewerkschaften und Unternehmerverbände - dessen Geltung im Arbeitsverhältnis davon abhängig machen können, dass die Parteien des Arbeitsvertrags – also Arbeitnehmer und Arbeitgeber - die Einführung des Tarifwerks durch eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag klarstellen.
Um eine solche Einbeziehung auch schon lange bestehender Arbeitsverträge in neue Tarifabschlüsse zu erreichen, schließen Unternehmen Firmentarifverträge ab. Dafür schließt sich nicht ein Unternehmensverband für eine ganz Branche, sondern ein einzelnes Unternehmen mit der Gewerkschaft einen Vertrag. An die Vorteile dieses Firmentarifvertrages gelangen die Mitarbeiter aber nur, wenn sie zugleich neue Arbeitsverträge abschließen.
Für den Arbeitgeber bietet sich so die Möglichkeit, Mängel in bestehenden Arbeitsverträgen zu beseitigen. Dies kann insbesondere finanzielle Gründe haben, zum Beispiel wenn durch den Neuabschluss bislang unwirksame Widerrufsvorbehalte oder Ausschlussklauseln korrigiert werden. Teilweise ist aber auch die Vereinheitlichung von Arbeitsbedingungen beabsichtigt, etwa wenn bislang bei einem Arbeitgeber viele unterschiedliche Arbeitsvertragsmuster zur Anwendung gelangen.
Klägerin lehnt Bezugnahme auf neuen Tarifvertrag ab
Die Klägerin war Mitglied der IG Metall und seit dem Jahr 1999 bei dem beklagten Unternehmen beschäftigt. Im Mai 2015 schloss die vormals nicht tarifgebundene Beklagte einen Manteltarifvertrag und einen Entgeltrahmentarifvertrag mit der IG Metall ab. Beide Tarifverträge enthielten eine Klausel, nach der „tarifvertragliche Ansprüche aus diesem Tarifvertrag voraussetzen, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird.“ Damit muss diese Einigung Eingang in den Arbeitsvertrag finden, um wirksam zu sein.
Die Beklagte übersandte der Klägerin im März 2016 einen neuen Arbeitsvertrag, der eine sogenannte "dynamische Bezugnahmeklausel" enthielt: Danach sollte sich das Arbeitsverhältnis nach dem jeweils für den Betrieb geltenden Tarifwerk in seiner jeweils gültigen Fassung richten. Die Klägerin strich einige Klauseln des Arbeitsvertrages durch, bevor sie ihn unterzeichnete. Dazu gehörte auch die dynamische Bezugnahmeklausel. Nichtsdestotrotz verlangte die Klägerin später die Zahlung von Differenzentgelt, also die Differenz zwischen dem nach ihrem Arbeitsvertrag vereinbarten Gehalt und dem höheren auf der Grundlage der Bestimmungen des Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrags.
Die Vorinstanzen sind sich uneinig
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen entschied in der Vorinstanz, dass es im Hinblick auf die Zahlungsansprüche an einer Anspruchsgrundlage fehle. Die Parteien seien zwar gemäß § 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) an den Manteltarifvertrag und den Entgeltrahmentarifvertrag gebunden. Beide Tarifverträge würden hier aber nicht gelten, weil die tarifvertragliche Voraussetzung einer „arbeitsvertraglichen Nachvollziehung“ – also eine ausdrückliche Bezugnahme dieser Tarifverträge im Arbeitsvertrag – nicht erfolgt sei. Schließlich habe die Klägerin die entsprechende Klausel selbst durchgestrichen, bevor sie den Arbeitsvertrag unterzeichnet hatte.
Die tarifvertragliche Regelung hielt das LAG Hessen für wirksam. Die Tarifvertragsparteien könnten auf die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen verzichten oder diese von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig machen. Dies sei von der Tarifautonomie (Art 9 Abs. 3 Grundgesetz) gedeckt, denn die Tarifvertragsparteien seien insoweit nur berechtigt (und nicht verpflichtet), eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens herzustellen. Wenn sie davon absehen dürfen, Tarifverträge zu schließen, müssten sie erst recht befugt sein, die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig zu machen.
Das LAG München hatte zwischenzeitlich in einem ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass die Tarifvertragsparteien die ihn zustehende Tarifmacht überschreiten würden, wenn sie die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags an eine zusätzliche Voraussetzung, wie den Abschluss eines Arbeitsvertrags, knüpfen (LAG München, Urt. v. 09.10.2019, Az. 11 Sa 130/19). Auch dieses Verfahren war in die Revision vor dem BAG gegangen und ist vom 4. Senat mitentschieden worden.
BAG hält die Einschränkung der Tarifgeltung für unzulässig
Das BAG teilte die Auffassung des LAG München: In der nur als Pressemitteilung vorliegenden Entscheidung stellt der 4. Senat klar, dass allein die beiderseitige Tarifgebundenheit gemäß § 4 Abs. 1 TVG ausreiche, um Ansprüche aus den Tarifverträgen zu vermitteln. Das bedeutet, dass Regelungen aus einem Tarifvertrag bereits dann anwendbar sind, wenn der Mitarbeiter Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist und der Arbeitgeber entweder Mitglied im tarifschließenden Unternehmensverband oder (im Fall des Firmentarifvertrags) selbst Partei des Tarifvertrages ist. Nach Ansicht der Erfurter Richter ist es demgegenüber unzulässig, wenn die Parteien eines Tarifvertrages – wie hier – die Ansprüche aus den Tarifverträgen von individualrechtlichen Umsetzungsmaßnahmen abhängig machen.
Auswirkungen auf die Praxis
Für die Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung Anpassungsbedarf: Ist mit der Einführung eines neuen Tarifwerks gleichzeitig der Neuabschluss von Arbeitsverträgen beabsichtigt, greifen die bewährten Methoden künftig nicht mehr.
Es gibt aber Möglichkeiten, auf anderem Wege den gewünschten Erfolg zu erzielen. Beispielsweise können die Tarifvertragsparteien den Tarifabschluss unter die aufschiebende Bedingung stellen, dass die Belegschaft oder ein überwiegender Anteil davon den neuen Tarifvertrag ausdrücklich einzelvertraglich anerkennt. Dann hängt das Zustandekommen des Tarifvertrages davon ab, dass genügend Mitarbeiter den Tarifvertrag arbeitsvertraglich nachvollziehen. Anders als in dem vom BAG entschiedenen Fall schränken die Parteien des Tarifvertrages damit die Geltung der Tarifnormen nicht ein, sondern machen bereits deren Entstehen von der Zustimmung der einzelnen Mitarbeiter abhängig – dies müsste zulässig sein.
Umgekehrt sollten Arbeitnehmer, denen bislang mangels Zustimmung zu einem neuen Arbeitsvertrag die Anwendung eines Firmentarifvertrages verwehrt wurde, genau prüfen, ob nicht auch in ihrem Fall eine vergleichbare Einschränkung vorliegt. Denn die vom BAG für unwirksam erklärte Regelung dürfte auch in verschiedenen anderen Tarifverträgen enthalten sein. Ist dies der Fall, lohnt sich ein Vergleich zwischen den tatsächlich bezogenen und nach Firmentarifvertrag geltenden Leistungen: Es bestehen nun gute Aussichten, dass Arbeitnehmer in vergleichbaren Fällen auch ohne Neuabschluss eines Arbeitsvertrages die Vorteile eines Tarifvertrages beanspruchen können, die ihnen bislang vorenthalten geblieben sind.
Der Autor Dr. Alexander Willemsen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
BAG zur Einbeziehung von Tarifverträgen: . In: Legal Tribune Online, 14.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41618 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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