FDP, Linke und Grüne drängen auf mehr Schutz von Homosexuellen im Grundgesetz. Art. 3 GG soll um das Merkmal der sexuellen Identität ergänzt werden. Die SPD ist auch dafür - und will nun den Druck auf den Koalitionspartner erhöhen.
Wenn am kommenden Donnerstag auf gemeinsame Initiative von FDP, Linken und Grünen (BT-Ds. 19/13123) im Deutschen Bundestag darüber debattiert wird, ob die sexuelle Identität ins Grundgesetz (GG) gehört, steht die SPD vor einem Problem: Einerseits teilt man das Anliegen von Teilen der Opposition seit vielen Jahren, Art. 3 Abs. 3 GG um das Merkmal der sexuellen Identität zu ergänzen. Andererseits wird sie aus Gründen der Koalitionsräson keinem Antrag von FDP, Linken und Grünen zustimmen, der genau das erreichen will.
Um dieses Dilemma für sich aufzulösen, will die SPD-Fraktion nach LTO-Informationen in die Offensive gehen. Wie aus dem Abgeordnetenbüro des queerpolitischen Sprechers der Fraktion, Dr. Karl-Heinz Brunner, zu erfahren war, soll in einer der nächsten Fraktionssitzungen ein Antrag beschlossen werden, in dem man sich für eine Grundgesetzänderung ausspricht, bei der Art. 3 Abs.3 GG um das Merkmal der "sexuellen Orientierung" ergänzt wird. Wie es hieß, wolle man dann auf dieser Grundlage das Gespräch mit dem Koalitionspartner suchen.
Gelingt das nicht – wovon wohl eher auszugehen ist – wolle man die Union zumindest von einem nationalen Aktionsplan überzeugen. Der Lesben und Schwulenverband Deutschland (LSVD) hält einen derartigen Aktionsplan zur Bekämpfung von Homophobie und Transfeindlichkeit schon seit längerem für dringend erforderlich und hat sich im letzten Jahr enttäuscht darüber gezeigt, dass sich dieser im Koalitionsvertrag der Groko nicht wiedergefunden hatte.
Art. 3 GG: Zuletzt geändert 1994
Ob das in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG enthaltene Diskriminierungsverbot ausreichend ist, wird bereits seit Längerem diskutiert. Die Absätze 2 und 3 verbieten es grundsätzlich, Menschen anhand der Merkmale Geschlecht, Abstammung, aus rassistischen Gründen, wegen der Sprache, Heimat und Herkunft, dem Glauben, religiöser oder politischer Anschauungen sowie einer Behinderung zu benachteiligen. Damit zog der Parlamentarische Rat bei Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 die Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Die dort aufgezählten persönlichen Merkmale sollten als Anknüpfungspunkt staatlicher Differenzierung grundsätzlich ausscheiden.
Allerdings blieben Homosexuellen und auch Behinderten die Aufnahme in diesen Merkmalkatalog 1949 verwehrt. Erst 1994 wurde in Absatz 3 Satz 2 ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund von Behinderung mit aufgenommen. Ebenso ein Fördergebot in Absatz 2 Satz 2, dass den Staat dazu verpflichtet, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.
Befürworter einer verfassungsrechtlichen Ergänzung verweisen darauf, dass Homosexuelle nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch noch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik verfolgt und kriminalisiert wurden. Zudem dauere die Diskriminierung von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in vielen Bereichen bis heute an.
Im Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen heißt es: "Die Lebensführung etwa von Homosexuellen stößt noch immer auf Vorbehalte, was sich in rechtlicher und sozialer Diskriminierung niederschlägt. Diese kann viele Ausprägungen haben und reicht von sozialem Boykott bis zur Verächtlichmachung, von rechtlicher Benachteiligung bis zu offener Gewalt. Das allgemeine Diskriminierungsverbot bietet dabei keinen ausreichenden Schutz von Lesben, Schwulen und Bisexuellen." Eine ausdrückliche Verankerung gleicher Rechte für diese Gruppe im Grundgesetz wird zudem als Absicherung dafür gesehen, dass sich Unterdrückung und Verfolgung nicht wiederholen.
Anders als im Grundgesetz findet sich in mehreren Landesverfassungen ein Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Identität (Berlin, Brandenburg, Bremen, Saarland) bzw. der sexuellen Orientierung (Thüringen). Gemeinsam mit Rheinland-Pfalz haben die genannten Länder 2018 zudem eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, um den Gleichheitssatz im Grundgesetz nicht nur um das Merkmal der sexuellen Orientierung, sondern auch um das der Geschlechtsidentität zu ergänzen.
Staatsrechtler: "Berechtigter Anlauf zum Schließen einer Schutzlücke"
Zustimmung erfährt die geplante Grundgesetzänderung unter anderem beim Vorsitzenden der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtler, Joachim Wieland. Der Professor für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer sagte gegenüber LTO: "Auch wenn das Grundgesetz tatsächlich nicht mit Detailregelungen überfordert werden sollte, scheint mir der Schutz der sexuellen Identität gerade vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland (Anm. d. Red.: Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen) deutlich notwendiger als manch andere Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 1 GG, zumal ein enger Bezug zum Schutz der Menschwürde besteht. Ich sehe den Entwurf als berechtigten Anlauf zum Schließen einer Schutzlücke, die im Grundgesetz wegen der 1949 vorherrschenden gesellschaftlichen Auffassungen besteht."
Zustimmend gegenüber LTO äußerte sich auch die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, Prof. Maria Wersig: "Zwar wird die sexuelle Orientierung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 faktisch einem Diskriminierungsverbot unterworfen. Ein ausdrücklicher Verfassungswortlaut ist allerdings sehr viel mehr wert als die Auslegungspraxis des Bundesverfassungsgerichts." Gerade zu einer Zeit, "in der reaktionäre Kräfte Auftrieb nehmen", sei eine möglichst konkrete verfassungsrechtliche Verankerung wünschenswert, so Wersig.
Aktuell erscheint die dafür benötigte Zweidrittelmehrheit im Bundestag in weiter Ferne. Wie die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Eva Högl, gegenüber LTO bedauerte, scheitere die "überfällige" Änderung von Art. 3 bislang "am Widerstand unseres Koalitionspartners CDU/CSU".
Union will keine "Aufblähung des GG"
Dieser bekräftige gegenüber LTO erneut seine Ablehnung: Laut stellvertretendem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, sind die Rechte von Schwulen, Lesben und Bisexuellen bereits heute "vollumfänglich grundgesetzlich - auch in Artikel 3 GG - verbrieft“. Mit einer GG-Änderung bestünde die Gefahr, "dass weitere Gruppen in den Katalog von Merkmalen des Artikels 3 Absatz 3 Satz 1 GG aufgenommen werden wollen". Die "Präzision des Grundgesetzes" lebe von seiner Kürze und der damit verbundenen Prägnanz. Eine "Aufblähung des Grundgesetzes wäre weder hilfreich noch wünschenswert", so Frei.
Ähnlich sieht es auch der Bonner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Christian Hillgruber: Der Staat sei schon mit Blick auf die Garantie der Menschenwürde verpflichtet, die geschlechtliche, aber auch sonstige Selbstdefinition eines jeden Menschen grundsätzlich zu akzeptieren und seinem regulativen Zugriff zugrunde zu legen. "Er darf keinem Menschen eine andere als die selbstgewählte bzw. selbst empfundene Identität aufzwingen, ihn nicht in ein seine Individualität missachtendes Schema pressen", so Hillgruber gegenüber LTO.
Der Hochschullehrer befürchtet, dass eine derartige GG-Ergänzung "nur weitere Sonderbestimmungen anderer Gruppen nach sich ziehen würden". Das aber tangiere nicht nur die Ästhetik der Verfassung, sondern auch die Allgemeinheit ihrer Aussagen, die dabei verkannt würden.
"Ausgesprochen hohe Gewaltbetroffenheit"
Argumente, die Ulrike Lembke, Professorin für Öffentliches Recht und Gender-Forschung, im Gespräch mit LTO nicht gelten lassen will: Lembke erinnerte daran, dass die selbe "merkwürdige Argumentation" auch schon 1994 geführt worden sei, als es um die Frage ging, ob "Behinderung" in Artikel 3 Absatz GG aufgenommen werden sollte. Auch da habe es geheißen, der Schutz sei doch schon sehr gut und man dürfe nicht weitere, beliebige Kategorien aufnehmen. Wer die damaligen Bundestagsdebatten nachlese und an die Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderung sowie die Massenmorde im Nationalsozialismus denke, kriege doch "ziemlich das Grauen", so Lembke.
Nach Auffassung Lembkes hätten Behinderung und sexuelle Orientierung bereits 1949 ins GG geschrieben werden müssen. "Behinderung und sexuelle Orientierung beschreiben Unterschiede bzw. Unterscheidungen zwischen Menschen, welche nicht einfach neutral nach dem Motto 'schöne Vielfalt' funktionieren, sondern eben die strukturelle Benachteiligung von Personen beschreiben, welche einer bestimmten Gruppe angehören oder zugeschrieben werden."
Und ein deutliches Zeichen dafür, dass es "nicht um irgendwelche Kategorien" gehe, sei, so Lembke, die "ausgesprochen hohe Gewaltbetroffenheit", die deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liege. Zum Argument, das BVerfG schütze diese Gruppe bereits gleichwertig, sagte die Hochschullehrerin: "Diskriminierungsschutz als Minderheitenschutz ist im demokratischen Rechtsstaat zuvörderst die Aufgabe des (verfassungsändernden) Gesetzgebers."
Bevölkerung mehrheitlich für GG-Änderung
Anders als Union und konservative Verfassungsjuristen würde auch die deutsche Bevölkerung mehrheitlich eine GG-Änderung begrüßen: Im Rahmen einer repräsentativen Umfrage, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) im April 2019 anlässlich des 70. Geburtstag des Grundgesetzes durchführen ließ, sprachen sich "deutlich mehr Befragte für die Aufnahme weiterer Merkmale in Artikel 3 Absatz 3 GG und damit die Ausweitung des verfassungsrechtlichen Schutzes vor Diskriminierung auf weitere Bevölkerungsgruppen aus als dagegen."
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Merkmalen fielen mit 56 Prozent Zustimmung bei Lebensalter, 52 Prozent bei sexueller Orientierung und 49 Prozent bei geschlechtlicher Identität eher gering aus. Ergebnis der Befragung war auch, dass "ein bemerkenswerter Teil der Befragten (61 Prozent) Sorge hat, dass das Grundgesetz nicht ewig Bestand haben könnte und verfassungsfeindliche Kräfte eines Tages die Oberhand gewinnen könnten."
Die Bundesbehörde, die im Jahr 2006 auf Grundlage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes eingerichtet wurde, kommt daher zu einem eindeutigen Fazit: "Die Ergebnisse sprechen für eine Aufnahme der Merkmale sexuelle und geschlechtliche Identität sowie Lebensalter in Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz. Dadurch würde dauerhaft sichergestellt, dass Benachteiligungen aufgrund dieser Dimensionen grundsätzlich verboten sind und ein deutliches Zeichen für Anerkennung und Sichtbarkeit gesetzt."
Sexuelle Identität in Art. 3 GG: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38511 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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