Das Bildungsministerium in Erfurt hat Beschwerde gegen den umstrittenen Beschluss des Weimarer Familienrichters eingelegt. Und der Staatsanwaltschaft liegen drei Strafanzeigen vor. Derweil hat ein anderes AG ähnlich entschieden.
"Wir legen Rechtsmittel ein und ergreifen alle notwendigen Schritte." Das Bildungsministerium in Thüringen (TMBJS) ist noch am Montag aktiv geworden, um gegen den Beschluss eines Familienrichters am Amtsgericht (AG) Weimar vorzugehen, teilte das Ministerium auf LTO-Anfrage mit. Der Richter hatte in einem ungewöhnlich langen Beschluss von rund 170 Seiten jegliche Corona-Schutzmaßnahmen an zwei staatlichen Schulen in Weimar aufgehoben – nach dem Inhalt der Entscheidung für alle Schülerinnen und Schüler. Der Fall löste eine Debatte über Zuständigkeiten eines Familienrichters, mögliche Rechtsmittel, Folgen des Beschlusses für die Schulen – und strafrechtlich relevantes Verhalten aus.
Der Familienrichter hat die Zustellung des Beschlusses an die Kindesmutter, das 14-jährige Kind, den Verfahrensbeistand, das Jugendamt Stadtverwaltung Weimar, beide Schulleitungen und den Freistaat Thüringen vertreten durch das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie veranlasst.
Das TMBJS legte daraufhin noch am Montag Rechtsmittel ein: "Wir legen noch heute gegen den Beschluss des Amtsgerichts in der o.g. Sache Beschwerde ein", teilte das Ministerium gegenüber LTO mit. Das AG lege die Beschwerde nach § 68 Abs. 1 Familienverfahrensgesetz (FamFG) dem Beschwerdegericht vor. Beschwerdegericht sei nach § 119 Abs.1 Nr. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) das Oberlandesgericht (OLG) Jena.
Zudem – und das ist bisher nicht erfolgt – werde das TMBJS fristgerecht nach § 54 Abs. 2 FamFG einen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung an das AG Weimar stellen.
Beschwerde gegen "Scheinbeschluss"?
Doch damit geht das Ministerium den falschen Weg, meinen Experten: "Diese Beschwerde ist unzulässig", erklärt Ulrich Brüggemann, ehemaliger Vorsitzender Richter am Kammergericht, Berlin, zuständig für Familiensachen. Zunächst müsse gemäß § 54 Abs. 2 FamFG ein Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gestellt werden. Erst nach einer Entscheidung aufgrund einer mündlichen Verhandlung sei der Rechtsweg für die Beschwerde eröffnet, § 57 S. 2 FamFG. "Die Beschwerde gegen die aktuelle Entscheidung wird als unzulässig verworfen werden", so der Jurist.
Das Ministerium argumentiert gegenüber dem OLG jedoch damit, dass es sich bei der Entscheidung des Familienrichters um einen Scheinbeschluss handele, also einen Beschluss, der so offenkundig falsch ist, dass er nichtig ist und keine Rechtswirkungen entfaltet.
"Der Scheinbeschluss ist in der Zivilprozessordnung nicht vorgesehen", erklärt Professor Dr. Alexander Thiele von der Universität Göttingen. Der Grundgedanke, der sich etwa in § 44 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) normiert findet, sei aber prinzipiell anerkannt. "Gegen ganz offensichtlich fehlerhafte Entscheidungen sollen sich die Betroffenen nicht auch noch mit Rechtsmitteln zu Wehr setzen müssen", erklärt Thiele. Über diesen Beschluss aus Weimar dächten Juristen aber noch nach – das allein sei schon ein Indiz dafür, dass es kein bloßer Scheinbeschluss mit der unmittelbaren Folge der Nichtigkeit sei.
Erst mal mündliche Verhandlung
Das OLG wird also - aller Voraussicht nach - einen rechtlichen Hinweis erteilen, dass zunächst der Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung zu stellen ist. Über diesen entscheidet derselbe Familienrichter, der bereits den Beschluss erlassen hat.
Wann er das macht und wie schnell er dann terminiert, obliegt der richterlichen Unabhängigkeit – ein hohes Gut. "Allerdings gilt in diesem Verfahren der Beschleunigungsgrundsatz aus § 155 FamFG, dass innerhalb eines Monats zu entschieden ist, umso mehr in Eilverfahren", erklärt Brüggemann. Gegebenenfalls könnte eine Beschleunigungsrüge erhoben werden.
Bis dahin aber, insofern herrscht Einigkeit, ist der Beschluss in der Welt. Und zwar unabhängig davon, ob der Richter fachlich zuständig war oder nicht und womöglich den Verwaltungsrechtsweg umgangen hat – wovon die klare Mehrheit der Jurist:innen ausgeht. Auch die Neue Richtervereinigung teilte mit: "Natürlich ist der Beschluss, wie andere gerichtliche Entscheidungen auch, in verfassungsrechtlicher Unabhängigkeit getroffen worden. Das bedeutet, dass mit der Entscheidung im rechtsstaatlichen System umgegangen werden muss. Dafür gibt es Rechtsmittel."
Der direkte Weg zum Bundesverfassungsgericht über § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), wie von einem Juristen auf dem Nachrichtendienst Twitter vorgeschlagen, wäre indes wohl kein zielführender Rechtsweg für das Ministerium, meint Verfassungsrechtler Thiele. "Das Ministerium hat die Möglichkeiten, den Antrag auf die mündliche Verhandlung zu stellen oder die Allgemeinverfügung neu zu erlassen", sagt der Professor. Damit sei aus seiner Sicht nicht vorstellbar, dass sich das Bundesverfassungsgericht zu diesem Zeitpunkt mit der Sache befasst.
Gegen den Richter sind, wie die Staatsanwaltschaft Erfurt auf LTO-Anfrage mitteile, inzwischen drei Strafanzeigen eingegangen.
Weitere Entscheidung aus Weilheim
Derweil hat eine Familienrichterin am AG Weilheim eine ähnliche Entscheidung erlassen (Beschl. v. 13.04.2021, Az. 2 F 192/21). Danach dürfen von Seiten der Schulleitung und der Stellvertretung an einer Realschule die Kinder keine Anordnung zum Tragen einer Maske oder auf fehlende Masken folgende Ausschüsse vom Unterricht mehr erfolgen.
Auch diese Richterin sieht die Zuständigkeit über § 23a Abs. 1 Gerichtsverfahrensgesetz (GVG) eröffnet und ihre Anordnung gegenüber einer Behörde von § 1837 Abs. 3, 4 BGB gedeckt. Auf die Entscheidung des Kollegen aus Weimar hat sie explizit Bezug genommen.
AG Weimar zu Corona-Maßnahmen: . In: Legal Tribune Online, 13.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44714 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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