Nach einem Beschluss des BVerwG muss sich eine Kommandeurin auf Tinder zurückhaltend äußern. Für Patrick Heinemann messen Bundeswehr und BVerwG hier mit zweierlei Maß und gefährden den Gedanken von Soldaten als "Staatsbürger in Uniform".
Der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) hat eine Disziplinarmaßnahme gegen eine Transgender-Offizierin der Bundeswehr aus Gründen gebilligt, die ein Schlaglicht auf den Zustand der Inneren Führung der Bundeswehr werfen (Beschl. vom 25.05.2022, Az. 2 WRB 2.21– 2 WRB 2.21). Gegenstand des Verfahrens war der Auftritt der betroffenen Bataillonskommandeurin auf dem semiöffentlichen, nur registrierten Nutzern zugänglichen Dating-Portal Tinder.
Die weit über die Truppe hinaus bekannte Oberstleutnant Anastasia Biefang, mit deren Diversitätsengagement sich auch die Bundeswehr gerne schmückt, präsentierte sich auf Tinder in den Worten des Bundesverwaltungsgerichts "in sitzender Pose mit erkennbaren Gesichtszügen und unter Verwendung ihres tatsächlichen Vornamens". Unter ihrem Profilbild hieß es: "Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome."
Wohlgemerkt: Das harmlose Profil der Soldatin enthielt keinerlei Bezug zur Bundeswehr. Dass sie Angehörige der Streitkräfte oder Vorgesetzte ist, konnte nur erkennen, wer die Dating-Plattform als registrierter Nutzer besuchte und sie darüber hinaus entweder persönlich oder aus den Medien kannte. Nachdem dieser Sachverhalt aus dem dienstlichen Umfeld von Anastasia Biefang ihrem Disziplinarvorgesetzten angezeigt wurde, verhängte dieser gegen sie die mildeste Disziplinarmaßnahme, einen einfachen Verweis.
BVerwG sieht "Mangel an charakterlicher Integrität"
Über die hiergegen von der Soldatin erhobenen Rechtsbehelfe entschied das Bundesverwaltungsgericht nunmehr letztinstanzlich. Dabei war das vorinstanzliche Truppendienstgericht Süd noch davon ausgegangen, mit ihrem Profil auf der Dating-Plattform habe die Soldatin ihre außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 3 Soldatengesetz) verletzt und das Ansehen der Bundeswehr ernsthaft beeinträchtigt, weil sie den Anschein erwecke, sich selbst und ihre Geschlechtspartner zu reinen Sexualobjekten zu reduzieren. Dieser Argumentation folgte der 2. Wehrdienstsenat in Leipzig zwar nicht, weil die Öffentlichkeit die privaten Äußerungen der Soldatin nicht der Bundeswehr als Ganzes zurechne. Die Disziplinarmaßnahme hielt das Bundesverwaltungsgericht gleichwohl aufrecht. Denn die Pflicht, sich außer Dienst so zu verhalten, dass die Achtung und das Vertrauen, die die dienstliche Stellung erfordern, nicht ernsthaft beeinträchtigt werden (§ 17 Abs. 2 Satz 3 Soldatengesetz), verlange auch, "dass eine Soldatin in der besonders hervorgehebenen dienstlichen Stellung einer Bataillonskommandeurin mit Personalverantwortung für ca. 1.000 Personen bei der Wahl der verwendeten Worte und Bilder im Internet Rücksicht auf ihre berufliche Stellung nimmt".
Sie müsse daher "Formulierungen vermeiden, die den falschen Eindruck eines wahllosen Sexuallebens und eines erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität erwecken". Die Worte "offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome" erweckten "auch aus der Sicht eines verständigen Betrachters Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität", weswegen dies nach Auffassung des Gerichts mit einem einfachen Verweis geahndet werden durfte.
Bundeswehr und BVerwG messen mit zweierlei Maß
Diese Argumentation ist in vielerlei Hinsicht hochproblematisch. Das Gericht stellt zwar vordergründig nicht auf die sexuelle Orientierung der Soldatin, sondern auf ihre promiskuitive Praxis ab. Aber ist es wirklich Zufall, dass ausgerechnet eine überdurchschnittlich bekannte, für ihr Diversitätsengagement gelobte Offizierin für ihre Suche nach sexueller Abwechslung in einem geschlossenen Dating-Portal eine Disziplinarmaßnahme erhält? Sicher: Schon allein aufgrund des sehr offenen Tatbestands des Dienstvergehens – jeder Verstoß gegen Dienstpflichten genügt – ist die disziplinarrechtliche Praxis bereits allgemein von erheblicher Kontingenz und leider auch, man muss es sagen, Denunziantentum geprägt.
Dennoch geben die zahlreich vorhandenen Dating-Profile von Soldatinnen und Soldaten mit cis-heteronormativer Orientierung – zum Teil mit eindeutigen Hinweisen auf die Streitkräftezugehörigkeit – bisher allgemein keinen Anlass zu disziplinarer Ahndung. Der Hinweis in der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts, die Kommandeurin sei "überdurchschnittlich bekannt", lässt deshalb befürchten, dass der 2. Wehrdienstsenat hier durchaus besondere Maßstäbe an die betroffene Soldatin anlegte. Unabhängig davon lädt die Entscheidung den Tatbestand des Dienstvergehens aufgrund von Verstößen gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht mit Sittlichkeitsvorstellungen auf, die in der übrigen Rechtsordnung schon vor Jahrzehnten zurückgedrängt wurden.
Entscheidung beschädigt Leitbild von Soldaten als "Staatsbürger in Uniform"
Das alles bedeutet freilich nicht, dass die Entscheidung nur für Transgender-Soldaten Bedeutung hat, die sich nunmehr zu einem Schattendasein in der Truppe verdonnert fühlen könnten. Schon unmittelbar nach ihrer Verkündung ließ sich in den sozialen Netzwerken ein chilling effect beobachten, als Soldatinnen und Soldaten jedweder Orientierung hektisch begannen ihre Profile zu anonymisieren oder zumindest jeden Bezug zur Bundeswehr zu entfernen sowie Tweets und Postings zu löschen, bei denen sie nun eine disziplinare Ahndung befürchten. Diese Entwicklung lässt sich schwer mit dem Leitbild der "Inneren Führung" der Bundeswehr vom Soldaten als "Staatsbürger in Uniform" in Einklang bringen, der fest in die Gesellschaft integriert ist und für den die Grundrechte prinzipiell wie für alle anderen auch gelten (§ 6 Soldatengesetz). Gerade in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen sind solche Entwicklungen auch ein gefundenes Fressen für feindliche Nachrichtendienste, die im Internet gierig auf der Suche nach Erpressungsmaterial (russisch: "Kompromat") sind.
Das müsste nicht sein, wenn das Bundesverwaltungsgericht hier nicht ein Problem sehen würde, wo keines ist: Wer eine offene Beziehung führt, wird durch ein promiskuitives Sexualleben nicht erpressbar. Und dass die meisten Soldatinnen und Soldaten – auch Vorgesetzte – Sex haben, ist ebenso wenig geheimnisvoll wie der Umstand, dass sie privat auch sexuell Kontakt zu den verschiedensten Geschlechtern suchen. Sicherlich ist die Grenze dort überschritten, wo die Suche nach Sexualpartnerinnen und -partnern in der Eigenschaft als Vorgesetzte(r) der Öffentlichkeit oder gar Untergebenen aufgedrängt wird. Denkt man jedoch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu Ende, dürfen Soldatinnen und Soldaten – vor allem solche in Vorgesetztenstellung – im Jahr 2022 nicht privat und ohne jeden Bezug zur Bundeswehr auf Dating-Plattformen nach abwechslungsreichen Sexualkontakten suchen. Das ist nicht nur prüde, sondern für den Zusammenhalt der Truppe gefährlich, und wird hoffentlich vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden.
Dr. Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner bei Bender Harrer Krevet, Freiburg. Er ist Autor des Buches "Rechtsgeschichte der Reichswehr 1918-1933" und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht e.V.
BVerwG verlangt von Kommandeurin Zurückhaltung beim Tindern: . In: Legal Tribune Online, 26.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48569 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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