Vom Postbrief über Kabelnetz bis zu Social Media: Der offene Art. 10 GG hat auch dafür gesorgt, dass der Wandel der Medien nicht am GG vorbeigegangen ist. Er ist heute aktueller denn je, erläutert Christoph Gusy.
Art. 10 Grundgesetz (GG) hat seit seiner Entstehung einen dramatischen Wandel durchgemacht. Die Informationsgesellschaft ist wesentlich Mediengesellschaft. Und diese Medien sind ein zentraler Gegenstand des Grundrechtsschutzes. War es früher das Briefgeheimnis, welches gegen behördliche Überwachung mittels Öffnens im Dampfbad und Mitlesens geschützt wurde, so geht es gegenwärtig um das Telekommunikationsgeheimnis und seine globale, auch satellitengestützte Überwachung. Wenn das Leben online geht und die Freiheit mit ihm, so muss sich auch ihr Grundrechtsschutz wandeln. Und hier bildet das traditionsreiche Grundrecht eine Brücke.
Dabei geht es nicht um alle Medien, sondern um diejenigen, welche der Individualkommunikation dienen: Telefongespräche, Faxe, Emails, geschlossene Chatrooms, Social Media; diskutiert wird der Schutz der Datenfernübertragung ganz ohne menschliche Beteiligung. Das gilt medienübergreifend, vom alten Brief über das Kabel und das Internet bis hin zum Satellitenfunk. In diesem Sinne ist das Verständnis des Art. 10 GG medienoffen, der Verfassungswandel ist ebenso notwendig wie gelungen.
Schutz für die "Netzgemeinde"
Das ist eine Ausprägung der datenschutzrechtlichen Idee "privacy goes online". Es schützt die Medien freier Kommunikation (die Freiheit der Inhalte ist in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG thematisiert); und es schützt die private im Unterschied zur massenmedialen Kommunikation (diese ist von der Rundfunkfreiheit gemeint). Sein Schutz kann sowohl einzelne Beteiligte einzelner Kommunikationsvorgänge als aber auch die „Netzgemeinde“ insgesamt betreffen. Gerade hier zeigt sich: Privatheitsschutz umfasst nicht nur Individuen, die mit sich allein sind; er ist wesentlich Kommunikationsschutz. Er ist mehr als das Recht zu schweigen oder allein zu bleiben. Und er endet nicht, wo Interaktion und Zusammenleben beginnen. Auf diese Weise wirkt er auch als Schutz einer informationell und kommunikativ differenzierten Gesellschaft: Was Einzelne austauschen, kann auch unter ihnen bleiben. Interventionen Außenstehender, namentlich des Staates, sind besonders rechtfertigungsbedürftig.
Der Schutz ist medial geprägt und begrenzt. Geschützt ist der Kommunikationsvorgang, wie und solange er stattfindet. Er beginnt nicht erst dort, wo Geheimnisse ausgetauscht werden. Im Gegenteil: Genau das dürfen die Grundrechtsadressaten nicht einmal prüfen. Die Kommunikation ist auch geschützt, wo und wenn nur allgemein bekannte Mitteilungen ausgetauscht werden. Nach europäischem Verständnis betrifft der Schutz nicht allein Inhalte, sondern auch Kommunikationsvorgänge und –umstände: Wer wann wo mit wem kommuniziert hat, ist vom Schutzbereich erfasst und darf weder gezielt überwacht noch flächendeckend aufgezeichnet werden.
Eine Überwachung der Verbindungs- oder Metadaten ist ähnlichen Voraussetzungen unterworfen wie die Aufzeichnung der Inhalte. Das private Leben darf kein aufgezeichnetes Leben werden (wie etwa bei der Vorratsdatenspeicherung). Das ist unabhängig von der geplanten Verwendung aufgezeichneter Informationen. Es geht nicht allein um die Verhinderung von Missbrauch, sondern auch um die Vermeidung der Einschüchterung des Gesellschaft: Wer sich überwacht fühlt, agiert nicht mehr frei. Auch wenn hier die empirischen Einzelheiten noch wenig geklärt sind – der Ansatz ist grundrechtsfreundlich, der EuGH geht fast noch weiter als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG).
Privatheitsschutz meint Autonomieschutz
Umso wichtiger ist die Abgrenzung des Kommunikationsschutzes zum Privatheitsschutz. Dieser ist in Europa in denselben Garantien (Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention EMRK; Art. 7 Europäische Grundrechte-Charta EUGRC) wie das Telekommunikationsgeheimnis geregelt, in Deutschland hingegen auf unterschiedliche Garantien (Art. 13; 10; 6; 2 Abs.1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) verteilt. Maßgeblich ist klassisch das sog. Autonomie- oder "Kontrollkriterium": Privatheit bedeutet Möglichkeit der Kontrolle über den Zugang zu den eigenen Informationen. Sie ist mehr als nur Kommunikationsschutz, sondern umfasst auch die Möglichkeit eines zeitweisen Rückzugs aus der Öffentlichkeit. Und sie schützt auch andere Bereiche der Privatheit als Medien: Räume (Wohnung), institutionalisierte Beziehungen (Familie), besonders geschützte Vertrauensverhältnisse (etwa: §§ 53 ff. Strafprozessordnung StPO), informationelle Selbstbestimmung und Vieles mehr.
Sie garantiert das Recht, Informationen weiterzugeben oder dies zu begrenzen oder zu unterlassen. Was einer mitteilt, ist seine Freiheit. Aber sie besteht nicht eingeschränkt, namentlich nicht im Verhältnis zu Privaten, wie jeder weiß, der bei einer Bestellung im Geschäfte oder im Internet Daten angeben musste. Im Netz kann deren Erhebung explizit oder implizit, vielfach schon durch Nutzung bestimmter Seiten geschehen, die ihrerseits personenbezogene Daten generieren und Dritten zur Verfügung stellen. Wenn diese Kenntnis erlangt haben, gehen die Daten in ihr Wissen über. Und sie dürfen diese nach Maßgabe ihrer eigenen Freiheit nutzen, beruflich (Art. 12 GG), kommunikativ (Art. 5 GG) usw.
Dann ist die informationelle Selbstbestimmung nicht verloren, sondern vielmehr ausgeübt. Dass so die Privatheit auch von ökonomischen Interessen, sozialen Geltungsbedürfnissen und der Angewiesenheit auf Leistungen Dritter abhängig wird, liegt nahe. Das Netz ist frei, die Beziehungen der Nutzer untereinander sind es nur eingeschränkt. Hier kann man nicht allein auf den Selbstschutz der Betroffenen vertrauen. Viele technische Vorgänge sind für sie undurchschaubar. Die Kommunikation im Netz findet unter eingeschränkten Bedingungen statt: Kurze Aufmerksamkeitsspannen, Störungen durch Dritte (etwa im Haushalt, während man am Computer sitzt), unverständliche Vertragsklauseln, asymmetrische Informationslagen, Rechtslücken im grenzüberschreitenden Datenverkehr, Missbrauchs- und manchmal gar Betrugsanfälligkeit). Dem kann durch einen bloßen Verweis der strukturell unterlegenen Seite auf den Selbstdatenschutz allein nicht entgegengewirkt werden. Hier bedarf es eines Nebeneinanders von Selbst- und Systemdatenschutz durch Regulierung.
Die deutsche Insel im "Überwachungsozean"?
Art. 10 GG ist eine der Grundlagen dieser Regulierung. Er schützt vor Interventionen in bestimmte Privatsphären. Eine Schwäche ist seine Geltung allein für die deutsche Staatsgewalt. Übertragungswege machen an Staatsgrenzen nicht halt, sie können selbst bei Inlands-/Inlandskommunikation auch durch das Ausland oder den mancherorts als rechtsfrei angesehenen Weltraum stattfinden. Dort findet die Überwachung frei von deutschen Grundrechten statt. Manchmal wirkt die deutsche Garantie fast wie eine Illusion der Insel der (privaten) Seligen im (Überwachungs-)Ozean. Eine andere offene Flanke war die Privatisierung der Telekommunikationsunternehmen: Waren sie früher als Staatsunternehmen unmittelbar grundrechtsverpflichtet, so sie sie es inzwischen am ehesten kraft allgemein anerkannter Schutzpflichten. Aus dem einfachen Grundrechtswortlaut ist so eine komplexe multidimensionale Garantie mit offenen Flanken an den Staatsgrenzen geworden. Deren Schließung stößt auf wohl unüberwindliche politische Hindernisse in und durch andere Staaten.
Besonderheiten weist auch die Grundrechtsdurchsetzung auf. Während die meisten Grundrechtseingriffe den Betroffenen rechtzeitig bekannt werden und daher Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnen (Art. 19 Abs. 4 GG), ist dies bei einer Überwachung elektronischer Kommunikation vielfach anders. Sie findet mit technischen Mitteln, statt, und längst knackt es nicht mehr in der Leitung. Wer aber vom (bevorstehenden) Eingriff keine Kenntnis hat, kann auch keine Klage erheben. Und für eine Klage wegen bloß genereller Befürchtung eines solchen Eingriffs verneinen die Gerichte die Klagebefugnis. Daher unterliegen Eingriffe in Art. 10 GG durch staatliche Stellen dem Vorbehalt einer vorherigen richterlichen Entscheidung (entsprechend § 100a StPO) als schwerwiegende Grundrechtseingriffen, die unangekündigt bzw. unerwartet eintreten und daher keinen vorherigen effektiven Rechtsschutz ermöglichen.
Dann müssen vor Eingriffen Gerichte eingeschaltet werden (entspr. Art. 13 Abs. 2; 104 Abs. 2 GG). Wo dies wegen Unaufschiebbarkeit nicht möglich war, ist dies unverzüglich nachzuholen. Der Richtervorbehalt darf nicht zur bloßen Formalie werden und muss im Einzelfall Rechtsschutz gewähren. Verstöße dagegen können ein Verwertungsverbot begründen – jedenfalls in schwerwiegenden Fällen. Für die Nachrichtendienste gelten etwas großzügigere Regelungen, die an die Stelle der gerichtlichen Mitwirkung die Billigung durch ein parlamentarisches Gremium erfordern. Die Wirksamkeit dieser Vorkehrungen hängt letztlich von der Loyalität der handelnden Exekutiven ab: Es ist die Heimlichkeit und Unerkennbarkeit für Betroffene, welche den Grundrechtsschutz schwächen können. Das traditionsreiche Grundrecht mit fast schon leicht antiquiertem Wortlaut ist so aktueller denn je.
Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind die neuere Verfassungsgeschichte, das Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechte, das Polizei- und Sicherheitsrecht sowie das Informations- und Datenschutzrecht.
70 Jahre GG – Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG: . In: Legal Tribune Online, 14.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35361 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag