Der Grundsatz von der Doppelwirkung im Recht zählt zu den wichtigen rechtlichen "Entdeckungen". Weitgehend unbekannt ist heute ihr Entdecker selbst. André Niedostadek erinnert an Theodor Kipp, vor 100 Jahren Rechtsgeschichte geschrieben hat und vor 80 Jahren starb.
Gibt es in der Rechtswissenschaft etwas zu entdecken? Man mag das heute kaum glauben. Schon gar nicht im Vergleich zu anderen Disziplinen, allen voran den Naturwissenschaften. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das noch anders – etwa im Privatrecht. Das vor 115 Jahren im August 1896 von Kaiser Wilhelm II ausgefertigte und dann 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ist damals noch jung. Als Meilenstein hat es seinerzeit eine Zäsur eingeläutet, gab es doch im Deutschen Reich bis dahin nur ein zersplittertes Recht: Teils galt der französische Code Civil von 1804, teils das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, teils sogar noch der mittelalterliche Sachsenspiegel oder ein sonstiges lokales Recht.
Das BGB wird schnell zum Gegenstand intensiver Diskussion. Im Jahr 1911 – Roald Amundsen und Robert Falcon Scott haben sich gerade einen Wettlauf um die Ersterreichung des Südpols geliefert – veröffentlicht ein Berliner Rechtswissenschaftler einen Aufsatz in einer Festschrift der Berliner Juristischen Fakultät für Ferdinand von Martitz (der sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum feiert). Der Titel des Beitrags: "Über Doppelwirkungen im Recht insbesondere über die Konkurrenz von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit". Der Verfasser: Theodor Kipp.
Berliner Professor bricht mit traditioneller Rechtsgeschäftslehre
Der Autor ist in der Fachwelt kein Unbekannter. Als Professor für Römisches und Bürgerliches Recht lehrt der 1862 geborene Kipp bereits seit 1901 an der Universität Berlin. Zuvor hatte er zunächst in Göttingen bei Rudolf von Jhering und in Leipzig bei Bernhard Windscheid studiert und sich nach seiner Promotion (1883) in Leipzig habilitiert (1887). Es folgten erste Stationen als außerordentlicher Professor in Halle sowie als ordentlicher Professor in Kiel und Erlangen.
Durch das von ihm bis zum Inkrafttreten des BGB herausgegebene und bearbeitete Windscheidsche Lehrbuch des Pandektenrechts (immerhin acht Auflagen erreichte das Werk) hatte er sich bereits einen Namen machen können. Auch seine 1896 erstmals erschienene "Geschichte der Quellen des römischen Rechts" erlebte mehrere Auflagen. Der Nachwelt bleibt er jedoch vor allem durch seine viel beachteten Ausführungen zu den Doppelwirkungen in Erinnerung.
Kipp bricht darin mit traditionellen Vorstellungen von Rechtsgeschäften, wie beispielsweise Verträgen. Dabei setzt er direkt an der Wurzel an: Der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts, dem "Sein" oder "Nichtsein". Die auch heute noch zum Kernbereich der juristischen Ausbildung gehörende Rechtsgeschäftslehre sah man damals teilweise noch in einem etwas anderen Licht. So ist nahezu vergessen, dass in der rechtswissenschaftlichen Lehre und Rechtsprechung seinerzeit vielfach ein eher naturwissenschaftlich geprägtes Begriffsverständnis dominierte. Veranschaulichen lässt sich das etwa an folgendem Beispiel: Ist ein Vertrag wegen Verstoßes gegen ein bestimmtes Formerfordernis nichtig, dann existiert er nicht. Kurz und gut könnte man auch sagen: Tot ist tot. Das hatte zur Konsequenz, dass sich ein nichtiger Vertrag nicht mehr anfechten ließ (was gleichfalls zur Nichtigkeit führt, § 142 BGB). Denn einen doppelten Tod konnte kein Vertrag sterben.
Die Anerkennung bleibt zunächst versagt
Theodor Kipp räumt mit alledem am Beispiel der Konkurrenz von Nichtigkeit und Anfechtung auf. Es sei möglich, so Kipp, ein und dasselbe Rechtsverhältnis aus zwei Gründen zu verneinen. Sein Argument: Die Anfechtung ziele weniger darauf ab, ein Rechtsgeschäft zu beseitigen. Es gehe vielmehr um das rechtliche Interesse des Anfechtungsberechtigten. Und er folgert daraus: Auch wenn ein Rechtsgeschäft nichtig ist (etwa wegen Geschäftsunfähigkeit oder Formmangels), kann es doch noch angefochten werden. Oder, um wieder beim obigen Bild zu bleiben: Rechtlich lässt sich auch ein Toter durchaus nochmals umbringen. Das Problem ist übrigens keinesfalls nur akademischer Natur. Denn die Anfechtung kann für den Berechtigten unter Umständen vorteilhaft sein, etwa wenn es um einen Schadensersatzanspruch geht.
Das Echo auf Kipps "Entdeckung" ist unter seinen Kollegen zunächst verhalten. Erst ab den 1930er Jahren beginnt sich seine Ansicht mehr und mehr durchzusetzen. In den 1950er Jahren akzeptiert schließlich auch der Bundesgerichtshof die Anfechtung eines wegen Formmangels nichtigen Geschäfts. Seither gehört die Kipp'sche Lehre von der Doppelnichtigkeit (fast) zur berühmten "herrschenden Meinung". Heute findet der Grundsatz in vielen Bereichen Anwendung – angefangen vom Arbeitsrecht bis hin zum Verbraucherrecht.
Kipp selbst bleibt der Berliner Universität noch lange verbunden. 1914 löst er den Physiker Max Planck als Rektor ab. Von 1929 bis 1931 ist er zudem Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft zu Berlin. Auch publizistisch tritt er mit mehreren Veröffentlichungen weiterhin in Erscheinung. Grundlegend sind etwa seine Werke zum Familienrecht und Erbrecht. Theodor Kipp stirbt vor 80 Jahren an der italienischen Riviera in Ospedaletti. Wann genau, ob am 2. April oder am 18. August 1931, dazu gibt es "doppelte" Quellen. Das passt doch irgendwie.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
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André Niedostadek, Zum Gedenken an Theodor Kipp: . In: Legal Tribune Online, 03.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4178 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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