Weniger Fehlentscheidungen im Fußball und damit fairere Spiele – das versprach der DFB mit der Einführung des Videobeweises. Dass "Gerechtigkeit" auch mit modernster Technik immer noch begrenzt ist, zeigt Christian Deckenbrock.
Am 24. August startet die Fußball-Bundesliga in ihre 56. Saison, für den Videobeweis ist es dagegen erst das zweite Spieljahr. Mit großen Vorschusslorbeeren und nach einer einjährigen Offline-Phase mit umfangreichen Schulungen an den Start gegangen, zog er im Laufe der Saison immer mehr den Zorn der Fußballfans, aber auch einiger Vereine auf sich. Der Deutsche Fußballbund (DFB) hatte sich mit Hellmut Krug als seinem damaligen Projektleiter Videobeweis an der Spitze weit aus dem Fenster gelehnt. Man wolle den Fußball gerechter machen, sei sehr gut vorbereitet und werde die Öffentlichkeit so breit wie möglich informieren, hieß es von Verbandsseite.
Nur: Eine einheitliche Linie war gerade zu Saisonbeginn nicht zu erkennen. Abgesehen davon, dass die sogenannten kalibrierten Linien, mit deren Hilfe eine Abseitssituation klar bewertet werden können sollte, plötzlich aus technischen Gründen nicht zur Verfügung standen, kam es zu spektakulären Fehl-"Entscheidungen" im Video Assist Center (VAC), in dem die Video Assistant Referees (VAR) zentral untergebracht sind. So erwog der 1. FC Köln, nachdem mithilfe des Videobeweises am 2. Spieltag in der Partie bei Borussia Dortmund (0:5) ein Tor anerkannt worden war, obwohl der Unparteiische Patrick Ittrich das Spiel bereits zuvor durch Pfiff unterbrochen hatte, gar einen Einspruch gegen die Wertung eines Meisterschaftsspiels.
Krasse Pannen bleiben in Erinnerung
Großes Unverständnis löste etwa auch die Elfmeterentscheidung vom 12. Spieltag für den FSV Mainz 05 im Heimspiel gegen den 1. FC Köln (1:0) aus, als der Unparteiische Dr. Felix Brych auf eine Schwalbe des Mainzers Pablo de Blasis hereinfiel, ohne dass aus dem VAC, despektierlich auch "Kölner Keller" genannt, ein aufklärender Hinweis kam.
Um die Welt ging auch der Halbzeitelfmeter im Bundesligaspiel des FSV Mainz gegen den SC Freiburg am 30. Spieltag (2:0). Unmittelbar vor dem Halbzeitpfiff von Schiedsrichter Winkmann ereignete sich im Freiburger Strafraum ein strafstoßwürdiges Handspiel. Erst als ein Großteil der Spieler sich schon in der Kabine befanden und viele Zuschauer schon auf dem Weg zum Bratwurststand waren, kam aus Köln der Hinweis auf das Handspiel. Nachdem alle Spieler zurück auf den Platz geholt worden waren, wurde der Strafstoß vor halbleeren Rängen nachgeholt.
Die Pointe brachte schließlich das DFB-Pokalfinale in Berlin zwischen Eintracht Frankfurt und dem FC Bayern München (3:1), in dem Schiedsrichter Felix Zwayer nach Meinung vieler Beobachter dem FC Bayern kurz vor Spielende beim Stand von 1:2 einen Elfmeter auch nach dem Gang in die Review Area verwehrte.
Diese sicher besonders gravierenden Vorfälle bei der Anwendung des Videobeweises wurden begleitet von einigen grundlegenden Anwendungsproblemen. Neben Eingriffen, bei denen zwischen Vorfall und Hinweis durch den Videoschiedsrichter ein viel zu großer zeitlicher Abstand lag, fehlte es vor allem an einer einheitlichen Linie im Hinblick auf das Kriterium "klare" und "offensichtliche" Fehlentscheidung. Im Laufe der Saison wurden die Anweisungen an die Schiedsrichter zwar wiederholt – und zum Teil klammheimlich geändert: So etwa die Empfehlung an die Schiedsrichter, die fragliche Szene sich im Zweifel selbst in der sogenannten Review Area anzuschauen, und die Anweisung an die Videoassistenten, nur bei wirklich unzweifelhaften Fehlentscheidungen einzugreifen.
Eine Erfolgsgeschichte schrieb der Videobeweis trotz insgesamt besserer Ergebnisse in der Rückrunde aber trotzdem nicht: Zu sehr überstrahlten die falschen Entscheidungen auch viele völlig korrekte Eingriffe und Empfehlungen der Videoassistenten. Wenn zum Ende der Saison der Ausgang des Pokalfinales nach Ansicht der ganz großen Mehrheit aller Fans durch ein Versagen des Videobeweises beeinflusst wird, verdeckt dieses Bild die zahlreichen Korrekturen klarer Fehlentscheidungen, die dank des Videobeweises vermieden werden konnten – die DFB-Statistiker sprechen insoweit von 64.
Warum der Videobeweis ein wichtiges Hilfsmittel ist
Der Sport lebt von der Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung. Nimmt ein Unparteiischer eine Situation falsch wahr, kann das für die betroffene Mannschaft gravierende Folgen haben. Gleichwohl ist es wichtig und richtig, dass Schiedsrichterentscheidungen nicht nachträglich angefochten werden können. Wären Schiedsrichterentscheidungen jederzeit durch die Rechtsinstanzen überprüfbar und würde die Entscheidung über Meisterschaft, Auf- und Abstieg nicht auf dem Platz, sondern am grünen Tisch entschieden, wäre ein geordneter Spielverkehr undenkbar.
Aus sportspezifischen Gründen geht also Rechtssicherheit vor Einzelfallgerechtigkeit. Eine Entscheidung darf daher nur geändert werden, solange das Spiel noch nicht fortgesetzt ist. Wer mehr "Gerechtigkeit" im Fußball haben will, muss also richtigerweise daran ansetzen, die Entscheidungsqualität zu erhöhen. Hier kann der Videobeweis, richtig angewendet, ein wertvolles Hilfsmittel sein.
Gerechtigkeit ist trotz Videobeweises nur begrenzt möglich
Allerdings gilt: Der Videobeweis kann nur Erfolg haben, wenn alle Beteiligten akzeptieren, dass es eine völlige Fehlerfreiheit auch in der kommenden Saison und auch danach nicht geben wird. Die Objektivität, die der Begriff "Videobeweis" suggeriert, kann selbst mithilfe höchster technischer Standards nicht erreicht werden. So gehört etwa die Frage, ob ein strafstoßwürdiges Foul oder Handspiel vorlag, zu den "Interpretationsentscheidungen", bei denen sich subjektive Wertungen des zur Entscheidung berufenen (Video-)Schiedsrichters nicht vermeiden lassen. Der Zeitdruck, der bei der Entscheidungsfindung herrscht, die Qualität und die Auswahl der Bilder, die dem VAR bei seiner Entscheidung helfen sollen, und die Verzerrungen, die die Zeitlupe mit sich bringen kann, sind weitere mögliche Gründe dafür, dass am Ende des Videobeweises nicht das richtige Ergebnis steht.
Hinzu kommt, dass der Videobeweis Grenzen hat. Um den Spielfluss zu erhalten, wird eben nicht jede Entscheidung überprüft, sondern nur potenziell besonders spielrelevante Situationen (Tor, Elfmeter, rote Karte) und besonders kuriose Fehler (Spielerverwechslung bei gelber Karte). Dass mithilfe des Videobeweises nicht jedes Foulspiel im Mittelfeld und jede gelbe Karte überprüft werden kann, ist zwar im Ausgangspunkt richtig. Gleichwohl kommt es immer wieder vor, dass eine fehlerhafte Freistoßentscheidung oder ein zu Unrecht gegebener Eckstoß zum Siegtor führt.
Auch ein fehlerhafter Abseitspfiff, der der angreifenden Mannschaft einen vielversprechenden Konter nimmt, und eine überzogene gelb-rote Karte können mithilfe des Videobeweises nicht rückgängig gemacht werden, gleichwohl aber spielentscheidend sein. Weniger klare Fehlentscheidungen in der Summe bedeuten daher noch lange nicht, dass auch jedes konkrete Spiel "gerecht" ausgegangen ist.
Neue Fehlertypen im Fußballsport
Es wird daher auch künftig Diskussionen über Schiedsrichterentscheidungen geben. Sie verlagern sich nur: In der Öffentlichkeit geht es jetzt immer häufiger um die Frage, warum der VAR sich (nicht) eingeschaltet hat. Insoweit sind völlig neue Fehlertypen im Fußballsport entstanden. Hat etwa der Schiedsrichter eine vermeintlich klare Fehlentscheidung getroffen, wird jetzt weniger hinterfragt, wie das passieren konnte, sondern richtet sich der Zorn (jedenfalls solange sich der Unparteiische die Szene nicht noch einmal selbst in der Review Area angesehen hat) primär auf den VAR und widmet sich die Diskussion schwerpunktmäßig der Frage, warum er diese falsche Entscheidung bestätigt oder gar nicht erst eingegriffen hat. Während sich in diesen Fällen am Ergebnis im Vergleich zu dem Zeitalter vor dem Videobeweis nichts ändert, sind inzwischen auch Sachverhalte denkbar, in denen der Videoschiedsrichter die richtige Entscheidung des Feldschiedsrichters "überstimmt" und für eine falsche Spielfortsetzung plädiert.
Neustart in der Saison 2018/2019?Der DFB selbst gibt sich zuversichtlich, dass die Kritik am Videobeweis in der neuen Saison abebben wird. Dazu beitragen soll neben den kalibrierten Abseitslinien, die nach dem erfolgreichen Einsatz bei der WM nun zur Verfügung stehen, auch eine transparentere Kommunikation. Nachdem in der vergangenen Saison insbesondere die Stadionbesucher meist ahnungslos den Videoprozess verfolgt und nicht mehr gesehen hatten als einen Schiedsrichter, der sich an sein Ohr griff oder in die Review Area rannte, hat der DFB nun eine Web-Applikation programmiert, die es ermöglichen soll, Informationen aus dem VAC nach außen zu geben. Vorgesehen ist insbesondere eine Anzeige im Stadion, die den Grund der Überprüfung und das Ergebnis beinhaltet.
So begrüßenswert diese Neuerung auch ist, sie führt nicht weit genug. Es ist zwingend erforderlich, dass im Stadion dieselben Bilder gezeigt werden, wie sie auch im Fernsehen zu sehen sind und wie sie auch dem VAR zur Verfügung stehen. Es ist nicht erkennbar, warum eine solche Transparenz "gefährliche" Emotionalität im Stadion schüren sollte. Überhaupt sollte der DFB mit dem Videobeweis offener umgehen. Hierzu gehört es auch, in bestimmten Fällen den Funkverkehr, der zwischen Schiedsrichter und VAR erfolgt ist, offenzulegen.
Kommt es auch weiter zu gravierenden und kuriosen Fehlentscheidungen trotz Zuhilfenahme der Technik, wird es auch weiterhin Diskussionen geben. Solche nicht nachvollziehbaren Entscheidungen sind bei der Weltmeisterschaft (WM) jedenfalls weitgehend ausgeblieben. Im nationalen Spielverkehr kochten die Gemüter dagegen gleich beim Supercupspiel zwischen dem FC Bayern München und Eintracht Frankfurt am 12. August (5:0) hoch. Gleich in drei Situationen wurde diskutiert, ob der VAR hätte eingreifen müssen. Jedenfalls für den Ellenbogenschlag des Frankfurter David Abrahams gegen Bayerns Robert Lewandowski in der 70. Spielminute sind Argumente für die unterbliebene Empfehlung aus dem Kölner Keller – in dem immerhin der bei der WM als Videoschiri eingesetzte Bastian Dankert saß – nicht ersichtlich. Bleibt zu hoffen, dass ab dem 24. August alles anders und vor allem besser wird.
Der Autor Dr. Christian Deckenbrock ist Akademischer Rat am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln. In seiner Freizeit ist er Schiedsrichter in den Feld- und Hallenhockeybundesligen und als Turnieroffizieller bei internationalen Hockeyturnieren, zuletzt bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro, im Einsatz.
Mehr Gerechtigkeit durch den Videobeweis?: . In: Legal Tribune Online, 18.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30393 (abgerufen am: 07.11.2024 )
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