Der aktuelle Wettstreit um den Ruhm, einen wirksamen Impfstoff an oder in den Endverbraucher zu bringen, hat ein historisches Vorbild: Wahrer Fürst Englands und Frankreichs war einst, wer die Skrofeln heilen konnte.
Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 30. April 1957 betraf einen nicht besonders appetitlichen Sachverhalt. Eine Frau hatte sich seit dem Sommer 1952 über gut zwei Jahre hinweg in die Behandlung des späteren Angeklagten begeben, eines Heilpraktikers in Hamburg. Diesen konsultierte sie jedoch nicht länger, nachdem er zur mikroskopischen Untersuchung ein kleines Gewebestück von ihrem rechten Ohr hatte entnehmen wollen – ein Geschwulst, aus dem stets Blut und Eiter flossen.
Der Heilpraktiker traf seine sogenannte Diagnose und Therapie weniger invasiv auf der Grundlage der Magnetopathie, einer vom berüchtigten Quacksalber Franz Anton Mesmer (1734–1815) verbreiteten Methode, "magnetische" Kuren vorzunehmen – als durch ein Handauflegen, dessen magische Kräfte er nach Feststellung des Landgerichts (LG) Hamburg durch Nutzung eines Pendels zu verstärken suchte.
Von ihrem Tumor am Ohr bekam der Heilpraktiker nichts mit, weil seine Kundin sich hierzu nicht äußerte und – deutsche Mode dieser Zeit – stets ein Kopftuch trug, das ihre Ohren vollständig bedeckte.
Als sich die Frau nach gut zwei Jahren wieder in ärztliche Behandlung begab, war an die Stelle des rechten Ohres ein rund drei Zentimeter großes Geschwür getreten. Eine Bestrahlung brachte vorübergehende Besserung, keine Heilung.
Das LG Hamburg verurteilte den Heilpraktiker wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Körperverletzung zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, weil er es unterlassen habe, seine Patientin hinreichend zu untersuchen und ihr die Behandlung durch einen regulären Arzt ans Herz zu legen.
Der BGH hob das Urteil auf, weil nicht feststünde, dass sich durch die Fahrlässigkeit des Angeklagten der Zustand der Frau verschlimmert habe – es lasse sich nicht ausschließen, dass das Ohr der Frau zu dem Zeitpunkt, zu dem der Heilpraktiker seine mesmeristische Therapie begann, stärker zerstört gewesen sei als später. Auch dass eine ärztliche Behandlung den Krankheitsverlauf verbessert hätte, sei nicht auszumachen gewesen (BGH, Urt. v. 30.04.1957, Az. 5 StR 556/56).
Skrofeln: eine ganz besondere medizinrechtliche Spezialität
Der Vorgang ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Nicht allein, dass Entscheidungen zu mutmaßlichen Fehlleistungen von Heilpraktikern in den 1950er Jahren noch rar waren. Vor Gericht stritten sie meist um die Anerkennung als Beruf. Überarbeitet und neu herausgegeben kam sie erst seit den 1980er Jahren stark in Mode, mit einer wachsenden Zahl gerichtlich zu bearbeitender Schadensfälle.
Eine echte Rarität ist hier vielmehr, dass der angeklagte Heilpraktiker im Rahmen seiner sogenannten magnetopathischen Diagnose bei seiner Kundin unter anderem "eine skrofulöse Konstitution" festgestellt haben wollte – und damit ein Krankheitsbild, das Rätsel aufgibt.
Ein modernes medizinisches Wörterbuch wie der "Pschyrembel" verweist unter dem Lemma "Skrofulose" nur kurz angebunden auf die "Tuberculosis cutis", eine Tuberkuloseerkrankung der Haut. Der Blick in den historischen Brockhaus (14. Auflage, 1903) fördert hingegen ein recht barockes Bild von den Skrofeln zutage.
Einerseits wird zwar die Verbindung zu einer Tuberkuloseerkrankung der Haut gesehen, andererseits gab der Brockhaus als Stand der medizinischen Forschung auch die ein wenig merkwürdige Vermutung wieder, bei Kindern sei die Skrofulose auf eine Krebs- oder Syphiliserkrankung während ihrer Zeugung bzw. in der Schwangerschaft zurückzuführen. Gesunde, durch zu viel Kartoffeln, Erbsen oder Brot gefütterte Kinder könnten ebenfalls die Skrofeln entwickeln. Frische Luft helfe ihnen dann.
Kurz gesagt: Es ist fast immer unklar, was gemeint ist, wenn ein historischer Text – und hierzu reicht es, 60 Jahre in die Vergangenheit zurückzugehen – von Skrofeln oder der Skrofulose spricht.
Auf den Thron durch Krankenheilung
Es würde bei dieser medizinrechtlichen Rarität vor dem BGH bleiben, wäre die oft ekelerregende Hautkrankheit nicht auch für die Staatslehre von Interesse gewesen.
Seine Studie über "Die wundertätigen Könige" (1924 "Les rois thaumaturges") begann der berühmte französische Historiker Marc Bloch (1886–1944) mit dem Beispiel eines – nennen wir es – staatsrechtlichen Beweismittelangebots auf dem Gebiet der königlichen Heilpraktikerkompetenz: Auf der Suche nach Verbündeten in Italien erklärte der Gesandte des englischen Königs Eduards III. (1312–1377, im Amt seit 1327), dass dieser seinen Anspruch auch auf den französischen Thron unter anderem durch das Wunder der Krankenheilung beweisen könne – sei es, dass sich die konkurrierenden Parteien in die Gesellschaft eines wilden Löwen begäben, der den wahren König erkennen würde, sei es durch eine Art heilpraktischen Therapiewettbewerb.
Es handelte sich, wie Bloch detailliert belegte, nicht um eine vereinzelte und kuriose diplomatische Großsprecherei – der Glaube an die Heilkraft des wahren Fürsten spielte vielmehr in der Selbstinszenierung insbesondere des französischen Königs eine wesentliche Rolle, jedoch auch in jener seiner englischen Kollegen.
Heilung durch die Hand des Königs
Vor großen Festen des Jahreskreises – Ostern, Pfingsten, Weihnachten und Neujahr, mitunter auch zu Christi Himmelfahrt und Allerheiligen kündigte der Grand prévôt – einer der höchsten Justizbeamten Frankreichs – in Paris mittels Plakaten und Trompeten die königliche Berührung der Kranken an.
Eine öffentliche Ladung aus der Zeit von König Ludwig XIV. (1638–1715, Herrscher seit 1661) gibt etwa unter dem Datum vom 26. März 1657 bekannt, dass "Seine Majestät am nächsten Sonntag, dem Ostertag, die Skrofelnkranken in den Galerien des Louvre berühren wird, um 10 Uhr morgens, so dass keiner Unwissenheit vorschützen kann und damit diejenigen, die von besagter Krankheit befallen sind, Gelegenheit haben, sich dort einzufinden, wenn es ihnen gut dünkt".
Die Heilpraxis des französischen Königs zog zahlreiche Kranke an. Hatte seine Majestät, etwa aus Gründen eigener körperlicher Hinfälligkeit, einen der regulären Anlässe zur Skrofeln-Heilung ausfallen lassen, kamen beim nächsten Termin umso mehr Hilfesuchende auf ihn zu. Marc Bloch: "An Ostern 1698 hatte Ludwig XIV. wegen eines Gichtanfalls keine Kranken berühren können; an den folgenden Pfingsttagen erschienen fast 3.000 Skrofelnkranke vor ihm."
Gegen diese fürstliche Einsatzfreude auf dem Gebiet der Krankenfürsorge wirkt manch parlamentarisch-demokratisch verfasster Souverän heute regelrecht blass: Vor dem Pfingstsonntag 1715, "bei sehr großer Hitze" und sterbenskrank, legte der Sonnenkönig noch einmal 1.700 seiner skrofulösen Untertanen die Hand auf, drei Monate, bevor er selbst starb.
In England wurde das Ritual praktiziert, bis die heutige Dynastie ins Amt kam. Noch nachdem König Karl I. (1600–1649) von den Streitkräften des Parlaments gefangen genommen worden war, suchten die Skrofelnkranken von London die Heilkraft ihres Fürsten – was von Seiten der puritanisch-republikanischen Machthaber zunächst mit dem Argument verweigert wurde, die Siechen litten unter anderen, gefährlicheren Krankheiten.
Schließlich unterband das Parlament den Zugang zur royalen Heilpraxis, weil diese auf einem Aberglaube beruhe – was möglicherweise ein Schritt dahin war, die Legitimität des wahren Königs zu untergraben. Am 30. Januar 1649 wurde Karl hingerichtet.
Archaischer Heilerglaube schloss modernes Denken nicht aus
Es gibt wenig Grund, über das merkwürdige Ritual des Fürstenstaats die Nase zu rümpfen.
Zum einen machten sich im Zweifel schon die aufgeklärten Spötter im 18. Jahrhundert über die Vorgänge lustig, ohne es selbst naturwissenschaftlich besser zu wissen. Es zählte allein das Argument, das sei nur Aberglauben.
Zum anderen waren die magischen Heiler mitunter recht aufgeweckte Köpfe: Mit seinem Leibarzt William Harvey (1578–1657), war König Karl befreundet, es bestand wache Neugier an naturwissenschaftlichen Kuriositäten. Die Verhältnisse erlaubten es Harvey beispielsweise, den experimentellen Beweis zum menschlichen Blutkreislauf anzutreten.
Mit einiger Bewunderung äußerte sich Marc Bloch 1924 auch über die englische Verwaltung. Weil den Skrofelnkranken anlässlich der Begegnung mit dem König ein kleines Almosen gezahlt wurde – es reicht augenscheinlich nicht aus, um die öffentliche Anteilnahme an diesem Staatsakt zu erklären –, sind geordnete Rechnungsunterlagen überliefert. Nach Maßgabe von § 2 der "Richtlinie für das Bearbeiten und Verwalten von Schriftgut (Akten und Dokumenten) in Bundesministerien" vom 11. Juli 2001 war die königliche Skrofeln-Heilpraxis also rational – denn die Aktenmäßigkeit seiner Verwaltung gilt seit Max Weber als Rationalitätsprinzip des modernen Staates.
Weiterhin ist es für den modernen Bürger jederlei biologischen und empfundenen Geschlechts auch deshalb ein wenig unfein, über die englische und französische Skrofelnstaatspraxis die Nase zu rümpfen, solange das Wunderheilwesen als privater Geschäftsbetrieb weit verbreitet ist.
Fraglich ist schließlich, mit welchem Recht sich Repräsentanten des modernen Staats (para-) medizinischer Metaphern bedienen, wenn sie beispielsweise davon sprechen, dass eine "Spaltung der Gesellschaft" zu heilen sei – statt für ihre Programme zu werben und Wahlen als Plebiszite über Handlungsalternativen zu veranstalten.
Hinweis: Marc Bloch wurde als Angehöriger der Résistance am 16. Juni 1944 von Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht getötet. In deutscher Sprache liegen "Die wundertätigen Könige" seit 1998 vor.
Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 04.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44650 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag