Gewöhnlich entzieht sich Erhabenes dem profanen Zugriff. Das Heilige lebt und wirkt aus einer geheimnisvollen metaphysischen Verborgenheit. Anders bei Justitia, der römischen Göttin der Gerechtigkeit und des Rechtswesens. Sie sucht geradezu nach gegenständlicher Bildhaftigkeit und wird dadurch für jedermann sicht- und erfahrbar. Von Dr. Dr. Frank Ebert.
Als allegorische Figur mit menschlichen Zügen wacht Justitia an Gerichtsgebäuden, Rathäusern, Brunnen und Schlössern, einst und teilweise noch heute zentralen Orten der Rechtsprechung.
In ihrer Zeitlosigkeit erfreut sich die antike Göttin uneingeschränkter Akzeptanz. Der mit ihr begründete Mythos von der absoluten Gerechtigkeit steht einerseits für staatliche Ordnung und gesellschaftliche Moral. Andererseits prägt die Gerechtigkeit neben Besonnenheit, Tapferkeit und Klugheit als den anderen Kardinaltugenden nicht allein das weltliche Geschehen, sondern maßgeblich auch das Glaubensleben.
Justitia verkörpert wie kaum ein anderes Symbol Zusammenhänge und Gegensätze, Weltliches und Göttliches.
Die Göttin repräsentiert die Gerechtigkeit in Reinkultur
Landläufig sind Gerichte mit einer gewissen Würde ausgestattet, die Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit und Rechtskenntnis garantieren soll. Justitia tritt den Rechtsuchenden als ein solch würdevolles Wesen entgegen, sichtbar an öffentlichen Gebäuden positioniert. Stets ist sie an exponierter Stelle angebracht, als ob sie über allem steht.
Dies ist mehr als bloße Äußerlichkeit: Justitia muss alles sehen und darf nichts übersehen, will sie nicht zu falschen Schlüssen gelangen. Doch ist sie weit mehr als ein Synonym für die Rechtsprechung. Sie verkörpert die Justiz in ihrer Gesamtheit, ja sogar die Gerechtigkeit schlechthin.
Die anderen Staatsgewalten strahlen bei weitem nicht einen so hohen göttlichen Unfehlbarkeitsanspruch aus wie die Rechtsprechung. Weil Legislative und Exekutive vergleichbare Figuren fehlen, nehmen sie gerne Anleihe bei Justitia - als ob sie sich unter ihren Schutz stellen wollten. Der Göttin wächst damit die Aufgabe zu, nicht nur die Einzelfallgerechtigkeit, sondern die Ordnung und Sicherheit des Rechts insgesamt zu repräsentieren.
Keiner soll bevorzugt, niemand darf benachteiligt werden
Mächtig ist sie, gewaltig und durchsetzungsfähig. Ihre Züge sind übermenschlich, gleich ob sie Strafen verhängt oder Segnungen verteilt.
Es fällt auf, dass Justitia niemals lacht. Sie ist sich des Ernstes der Situation bewusst – jeder Situation, sei sie von enormer Bedeutung oder banal. Hierbei macht sie keine Unterschiede. Ihr Gesicht ist gleichförmig, die Gestalt ruht in sich. Zum Scherzen ist ihr nicht zumute. Ernsthaftigkeit kennzeichnet ihren Ausdruck.
Aufrecht steht sie, das Haupt erhoben, aber nicht zur Arroganz verzerrt. Sie ist ruhig und standhaft, bereit das Recht, das sie verkörpert, zu sprechen und durchzusetzen – zu jeder Zeit. Sie erweckt den Eindruck, die Gerechtigkeit sei dem Menschlichen entrückt und im Letzten dem Göttlichem vorbehalten. Im Angesicht von Justitia ist ein Hauch davon zu verspüren, vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand zu sein.
Justitia erhebt sich über das Weltliche, sie vernachlässigt es aber nicht. Ihr Sujet ist das Säkulare. Als Göttin verbindet sie Himmel und Erde, Sakrales und Profanes, allgemein Gültiges und individuell Bodenständiges. Normen beanspruchen über Einzelinteressen hinaus Geltung. Ihr Anspruch ist eindeutig: Keiner soll bevorzugt, niemand darf benachteiligt werden.
Justitias Kleidung unterstreicht ihre Haltung. Sie ist ebenso schlicht wie zweckmäßig. Sie ist zeitlos, ohne sich der Mode zu entziehen. Gelegentlich steht sie unbekleidet, wie die nackte Wahrheit, ohne schützendes Gewand, das etwas verbergen könnte.
Die Augenbinde als Garantie höchstmöglicher Objektivität
Justitia ist in der Verlegenheit, sich entscheiden zu müssen: Die Augenbinde bewahrt sie, die Göttin, vor dem Anblick alles anderen, das gegenüber der Gottheit nur niedrig, niederträchtig und schmutzig, kurz: menschlich sein kann. Würde sie das ganze Ausmaß des Elends zu ihren Füßen sehen, wer weiß, ob sie dann noch gerecht entscheiden könnte.
Bei ihren Entscheidungen soll sich Justitia nicht von den beteiligten Personen lenken lassen oder gar abhängig machen. Sie urteilt ohne Ansehen der Person, wie es auf gefestigter biblischer Grundlage in vielen Amtseiden versprochen wird (Deuteronomium Kapitel 10, Vers 17; 1. Petrusbrief Kapitel 1, Vers 17). In einem weiteren Sinn können gerechte Entscheidungen nur ohne Ansehen von Rang und Namen, Herkunft und Hautfarbe, Geschlecht und Religion fallen.
Justitias Augenbinde garantiert höchstmögliche Objektivität, fast schon Perfektion. Sie schützt die Göttin selbst vor Irrtum und Missbrauch, zumindest solange sie nicht betriebsblind wird.
Die Macht des Schwertes
Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel laut dem berühmten deutschen Rechtsphilosophen des 19. Jahrhunderts Rudolf Ihering, der Kampf. Welches Symbol böte sich als symbolträchtige Waffe zur Erlangung und Durchsetzung des Rechts besser an als das Schwert, Justitias auffälligstes Attribut? Entweder hält sie es hoch erhoben, warnend, drohend, kampfbereit und zugleich bewahrend, schützend und Achtung gebietend, wie eine dynamische Verheißung, das Recht verteidigen zu wollen. Oder aber es bezeugt eine statisch auf den Boden gerichtete Schwertspitze ihre stete Wachsamkeit und Bereitschaft.
Gleich ob stumpf, scharf oder zweischneidig: In jedem Fall drückt das Schwert hoheitliche Macht und Majestät aus. Es ist von jeher Symbol der materiellen Gerechtigkeit.
Die Porträts mittelalterlicher Herrscher künden hiervon und auch im Christentum sind solche Akzentuierungen unübersehbar: Christus als Weltenrichter, der Erzengel Michael, mit seinem liebenden Schwert das Gute vom Bösen, die Wahrheit von der Lüge und die Klarheit von der Verwirrung trennend oder der Apostel Paulus mit dem Schwert als Hinweis auf seinen Märtyrertod.
Sensible Balance durch die Waage
Das kämpferische Schwert steht in einem gewissen Kontrast zu Justitias empfindlicher Waage. Mit ihrer Hilfe ermittelt sie feinste Differenzen und findet heraus, was gleich und was ungleich behandelt werden muss.
Sie hat vieles zu wägen: Die Argumente von Streitparteien, die Schuld Angeklagter und manch andere Umstände, wie etwa Ermessenserwägungen. Die Waage ist das Mittel des Ausgleichs, der Voraussetzung von Ausgewogenheit, Verlässlichkeit und Rechtssicherheit.
Kein anderes Instrument ist so sensibel wie Justitias Waage. Sie läuft Gefahr, Ungenauigkeiten und Verzerrungen zu produzieren, ganz im Sinne eines anderen bedeutenden Rechtsgelehrten unserer Zeit Fritz von Hippel: "Im Recht erscheint die Waage der Justitia in zitternder Ruhelage. Daher bedürfen die Gewichte der Justiz immer der Nachprüfung."
Justitia vereint viele Gegensätze
Gelegentlich beschränkt sich Justitia nicht auf ihre Hauptmerkmale: Mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand präsentiert sie sich als Musterbeispiel an Weisheit und Selbstbeherrschung. Will sie sich der Beachtung des Rechts vergewissern, bevor sie es anwendet? Oder versinnbildlicht sie eher die Quelle des aus ihrer Hand fließenden Rechts, ein Absolutheitsanspruch, wie ihn gerne auch Apostel, Evangelisten und Ordensgründer für die Verkündigung des Glaubens erheben?
Die Schlange, die sich auf verschiedenen Darstellungen zu Justitias Füßen windet, spielt mit ihrer Doppelzüngigkeit auf Satan, Gift und Irrtum gleichermaßen an wie auf die entgegen gesetzten Eigenschaften Klarheit, Heilung und Erkenntnis. Justitias Fuß auf dem Reptil indiziert zweierlei: Zum einen den Bezug des Himmlischen zum Irdischen, Vergänglichen und Bösen, zum anderen aber auch den endgültigen Sieg des Guten über die negativen Einflüsse - ganz wie der Erzengel Michael mit dem Flammenschwert über den höllischen Drachen triumphiert.
Bei oberflächlicher Betrachtung erweist sich die Figur der Justitia und ihrer Beiwerke als ebenso widersprüchlich wie universell. Erst der tiefere Blick entfaltet ein sinnvolles Ganzes. Darstellungen der Justitia dürfen daher als Denkanstöße, aber auch als dauerhafte Mahnung verstanden werden, weiter möglichst nach Gerechtigkeit zu streben, auch wenn dieses Ziel - wie die christlichen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung - kaum je zu vollenden sein wird.
Wer nämlich diese Errungenschaften aus den Augen verliert, gefährdet gerechte Lebensbedingungen im Allgemeinen und die Würde des Menschen im Besonderen.
Dr. Dr. Frank Ebert ist Ministerialrat und Vertreter des öffentlichen Interesses beim Thüringer Innenministerium. Er war Lehrbeauftragter für Kriminologie an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und Leiter der Polizeiabteilung im Thüringer Innenministerium.
Frank Ebert, Sancta Justitia: . In: Legal Tribune Online, 24.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2221 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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