Vielerorts droht der Justiz das Personal auszugehen, dabei trägt sie den Rechtsstaat. Matthias Hucke möchte ermutigen und blickt zurück auf seinen Berufsstart als Richter sowie einen ihn prägenden Fall. Sein Plädoyer für den Richterberuf.
Wir schreiben das Jahr zehn nach der Jahrtausendwende. Der Schauplatz: Ein beschauliches Amtsgericht. Genauer gesagt, das Amtsgericht im Wedding, direkt vor dem Brunnenplatz in unserer hübsch-hässlichen Hauptstadt. Kleine Fälle aus dem Zivilrecht, kein Mord, kein Totschlag. Ein sanfter Einstieg. So dachte ich. Doch falsch gedacht: Nichts verlief sanft an meiner ersten Wirkstätte als Proberichter.
Ich, das war der frischgebackene Volljurist, der sich durch den Paragrafendschungel gekämpft hatte, durch das Feuer zweier Staatsexamen gegangen war und dessen akademischen Stolz ein Doktor der Rechte zierte. Ich fühlte mich bereit! Dass ich im Grunde von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, wusste ich da noch nicht. Auch nicht, dass gleich meine erste Station als Richter auf Probe ernste Zweifel an meiner Berufswahl nähren und ich ausgerechnet über Adolf Hitler wieder auf den rechten Weg finden sollte.
Mehr Sozialarbeiter als Richter
Der Wedding: Das ist der wahre Dschungel. Ein Dschungel der Großstadt, des Lebens und der Schicksale. Unbezahlte Mieten, abgesperrter Strom, verwahrloste Wohnungen. Müll bis unter die Decke, Kot im Flur, Gestank bis auf die Straße. Und jede Menge Streit: Zank unter Eheleuten, Krach in Familien, Fehden zwischen Nachbarn. Jeden Tag lagen mehrere Anträge nach dem Gewaltschutzgesetz auf meinem Tisch. Das heißt, jemand hat Angst, will zum Beispiel nicht, dass einem der eigene Ehemann zu nahekommt, der schon wieder im Suff zugeschlagen hat. Wieder grün und blau. Diesmal reicht’s. Endgültig!
Doch am nächsten Tag ist der Antrag wieder futsch, sang- und klanglos zurückgenommen. "Er hat es ja nicht so gemeint", heißt es dann. Und die blauen Flecken? "Das war die Treppe. Ich bin halt zu ungeschickt, Herr Richter." Im Wedding ist man mehr Sozialarbeiter als Richter, das wurde mir schnell klar. Ebenso, dass der halbe Bezirk einen Nervenarzt braucht. Jede Menge Wahnsinn kommt hier um die Ecke. Ich saß schon vor Gott, sprach mit dem Commander und traf Albert Einstein – übrigens ein reizender Mensch.
Wedding, das heißt auch: dicke Luft im Gerichtssaal. Es wird nicht selten laut. Parteien brüllen, Anwälte zanken. Oft fließen Tränen: vierzig Jahre in der gleichen Wohnung. Fast ein ganzes Leben. Nun plötzlich raus, "nur weil die Miete ein wenig im Rückstand ist." Und wieder: "Helfen Sie mir, Herr Richter!" Dann die einsetzende Erkenntnis: "Was soll das heißen, das Gesetz will es so? Was sind das für herzlose Gesetze?! Wo soll ich denn bloß hin?"
Harte Realität im kleinen Kabuff des Richters
Vorbereitet war ich darauf nicht. Wer denkt, im Studium lernen Juristen wie man Konflikte löst, Streit schlichtet oder Parteien befriedet, der irrt. Wir lernen Paragrafen, üben, wie man Gesetze auslegt, und sinnieren über theoretische Hypothesen. Menschen sind allenfalls Buchstaben: Der A schlägt den B. Der B schlägt doppelt so stark zurück. Wer muss ins Gefängnis? Doch im Wedding werden aus Buchstaben Schicksale. In jeder Akte ist eins drin. Nie weiß man, was einen erwartet, wenn man den Deckel aufschlägt.
Kurzum: Der Stadtteil machte es mir nicht leicht, die Welt der Normen mit der echten Welt zu vereinen. Auch mein Dienstherr unterstützte mich dabei nur auf eher subtile Weise. Schon an meinem allerersten Tag empfing mich ein Berg Akten, der an den Mount Everest erinnerte. Erste Verhandlung mit sieben Zeugen – eine Woche nach Dienstantritt. "Das schaffen Sie schon", meinte der Präsident des Amtsgerichts zu mir, bevor er mein Büro verließ, aber nicht ohne mir vorher noch väterlich auf die Schulter zu klopfen.
Apropos: Mein Büro war weniger ein Wohlfühlort als ein Kabuff aus acht Quadratmetern mit unverbaubarem Blick auf eine Mauer. Ich arbeitete zwischen Möbeln, die schon in den Siebzigern antik gewesen waren. Die Urteile schrieb ich in Word 95 – kein Scherz. Meine Robe musste ich mir selbst kaufen. Es war fast so, als wollte die Berliner Justiz testen, wie abgehärtet ich war.
Und dann kam Hitler
Dann kam auch noch Hitler. Völlig unerwartet. Ich schlug die Akte auf und las die Klageschrift: Es waren Mal zwei Arier. Der eine war bei dem anderen zu Besuch. Man trank Bier mit Korn. Dann das Missgeschick: Der eine Arier stößt die Büste des Führers um. Der porzellane Kopf zerspringt in “tausend Scherben“ (O-Ton). Welch ein Jammer: das handgefertigte Original von 1936 für immer untergegangen! Wir fordern Schadensersatz: 4.000 Euro.
Nun, wer jetzt denkt, die Kameradschaft sei mit dem Relikt zerbrochen, der irrt. Der Schädiger war mit der Büste am Boden zerstört und untröstlich, was er seinem Idol und seinem Kumpanen angetan hatte. Er meldete den Schaden seiner Haftpflicht. Doch die lehnte ab. Kein ersatzfähiger Schaden, meinte sie, denn ein Abbild von Hitlers Kopf sei ohnehin verboten. Also wählten Schädiger und Geschädigter eine Art Schauprozess – und das ausgerechnet bei mir. Wenn ich als Richter dem „Büstenhalter“ einen Schadensersatz zuspräche, konnte die Versicherung die Regulierung ja wohl kaum ablehnen, so das Kalkül. Ein Urteil eines deutschen Gerichts, gesprochen im Namen des Volkes, musste ja schließlich noch Gewicht haben.
Persönlich widerstrebte es mir, einem Neonazi zu seinem Recht zu verhelfen. Doch sein Ego muss man als Richter außen vorlassen, auch wenn es einem schwer fällt. Meine Pflicht war und ist es, nur getreu dem Gesetz und ohne Ansehung der Person zu entscheiden, das habe ich immerhin geschworen. Also setzte ich mich in die Bibliothek, wälzte Kommentare und stieg in die Prüfung ein. Die alles entscheidende Frage: Kann Hitler ein Schaden sein?
Endlich wieder Nervenkitzel
Und plötzlich war er wieder da, der juristische Nervenkitzel, den ich aus dem Studium kannte. Denn was ist eigentlich ein Schaden? Das ist keine banale, sondern mitunter sogar eine philosophische Frage. Hier trifft Recht auf Ethik. Genau das macht die Wissenschaft der Rechte so spannend: Herauszufinden, auf welche Werte und Regeln sich die Menschen einigen sollten, um gut zusammenzuleben.
Beispiel: Kann ein Mensch ein Schaden sein? Die bessere – richtig oder falsch gibt es dabei nicht – Antwort lautet (etwas verkürzt): ja! Denn das ist die Antwort, welche die Eltern eines mit einer schweren Behinderung geborenen Kindes brauchen, wenn sie von dem behandelnden Arzt, der den Gendefekt des Embryos während der Schwangerschaft nicht bemerkt hat, Ersatz für die Kosten für Pflege, Rollstuhl etc. haben wollen. Es sind Kosten, die schnell in die Hunderttausende gehen können. Gegenbeispiel: Wenn Bösewicht 1 dem Bösewicht 2 eins auswischen will und das Kilo Koks von 2 die Toilette runterspült, kann 2 von 1 den "Schaden" nicht ersetzt verlangen, weil unsere Rechtsordnung das Eigentum am Koks nicht billigt.
Und wie ist es jetzt mit Hitler? Hier kommt der Lieblingssatz der Juristen zum Zuge: Es kommt darauf an. Ich recherchierte, dass wenn man Hitlers Kopf in einem Schaufenster ausstellt, das strafbar sein kann, weil man ein Kennzeichen der NSDAP, also einer verfassungswidrigen Organisation, verwendet. Dann ist die Büste Tatwerkzeug und kann beschlagnahmt werden. Anders wiederum, wenn das Ganze als Kunst inszeniert wird. Das muss die Gesellschaft in der Regel dulden. Doch Obacht, auch hier gilt: Zwei Juristen, drei Meinungen. Nur eins schien mir schnell klar: Hitlers Kopf ist nicht per se verboten. Es wird sogar – so gruselig das ist – völlig legal mit NS-Devotionalien gehandelt. Man kann originale Uniformen von NS-Größen erstehen; sogar Eva Brauns Cocktailkleid und Adolf Hitlers Faltzylinder wurden schon versteigert.
Für meinen Fall hieß das: Der eine Neonazi durfte die Porzellanbüste des größten Massenmörders aller Zeiten besitzen und bei sich zu Hause aufstellen. Durch die Zerstörung war ihm ein Schaden entstanden. Der andere Neonazi musste ihm Ersatz leisten (und die Versicherung hätte es damit auch gemusst).
Wieder zurück im Verhandlungssaal
Doch der schwierigste Teil meiner Arbeit stand mir noch bevor. Denn die Zivilprozessordnung besagt, dass mündlich verhandelt werden muss. So war eine der ersten zugleich die schwierigste Verhandlung meines Lebens. Ich hatte noch nie einem Nazi (plus weiterem Nazi plus Nazi-Anwalt) von Angesicht zu Angesicht gegenübergesessen. Nun musste ich ihm auch noch sagen, dass er Recht bekommt. Ausgerechnet Recht von einem freiheitlich-demokratischen Gericht, dass er vermutlich sofort abschaffen würde, wenn es nach ihm ginge.
Die Situation war noch bedrückender als ich es mir vorgestellt hatte. Zwei Glatzköpfe in Springerstiefeln nebst Anwalt betraten meinen Saal. Ich musste daran denken, dass vor einigen Jahrzehnten im selben Saal tatsächlich noch NS-Recht gesprochen wurde, was es nicht weniger gespenstisch machte.
Ich hatte Sorge, dass mir die Stimme versagt, dabei wollte ich mir gerade heute keine Schwäche leiten. In diesem Moment half mir das, was ich am Leibe trug: meine (selbst gekaufte) Robe. Sie ist nicht nur ein Textil, das mir hilft, in meine Rolle zu schlüpfen, sondern vor allem das Symbol für die Justiz, denn im Gerichtsaal agiert keine Privatperson, sondern der deutsche Staat. Und dieser Staat steht für die Werte des Grundgesetzes, wozu vor allem die Menschenwürde, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit gehören. Und im demokratischen Rechtsstaat wird auf Grundlage der Gesetze entschieden, die sich der Souverän, also das Volk, durch seinen verlängerten Arm, also das Parlament, gegeben hat. Diese Gesetze und die darin enthaltenen Rechte gelten in unserer Demokratie sogar für ihre ärgsten Feinde, weil auch sie – so schwer das klingen mag – eine Würde haben. Genau das macht unsere postfaschistische Republik sogar aus. Es wäre also falsch gewesen, dem Neonazi seine Rechte abzusprechen, weil er unsere Werte nicht anerkennt. Das wäre wohlfeile Willkür. Nein, der Rechtsstaat muss stark sein, und seine Stärke liegt darin, dass er an seinen Werten festhält.
Für diesen Rechtsstaat zu arbeiten, erfüllt mich mit Stolz. Deswegen spreche ich auch heute noch gerne Recht für ihn. Erst recht seit der Sache mit Hitler im Wedding.
Der Autor Dr. Matthias Hucke ist Richter am Kammergericht.
Erlebnisse eines Berliner Richters: . In: Legal Tribune Online, 27.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53737 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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