Vor 125 Jahren beschäftigte sich die deutsche Justiz erstmals mit der Natur der elektrischen Leistung. Die Probleme berühren auch das grundsätzliche Verhältnis der Jurisprudenz zu den Naturwissenschaften.
Ein Blick in den "Brockhaus" sollte dem Richter eigentlich herauszufinden helfen, was als das gesicherte Wissen der bürgerlichen Gesellschaft gelten durfte. Im Fall der "Elektricität" scheiterte er daran jedoch.
In der im Jahr 1901 gedruckten 14. Auflage dieses führenden deutschen Nachschlagewerks wird in das technisch längst bemerkenswerte physikalische Phänomen noch ganz nach dem Geschmack des humanistisch gebildeten Bürgersohns eingeführt.
Es sei "Elektricität" damit "zunächst als der schon von den Alten" – also in der griechisch-römischen Antike – "am geriebenen Bernstein (elektron) beobachtete Zustand, in welchem derselbe leichte Körperchen anzieht".
In eigenständigen Lexikon-Einträgen wird im Weiteren zwar mit dem ganzen Selbstbewusstsein der wissenschaftlich-technischen Moderne etwa über zwei eng bedruckte Seiten dargestellt, was es mit dem neuartigen "Elekticitätswerk" auf sich hat oder in illustrierter Form die noch neue Errungenschaft des "Elektricitätszählers" vorgestellt.
Bei der seinerzeit beliebten Juristen- und Kinderfrage nach dem eigentlichen "Wesen" der Sache blieb der "Brockhaus" jedoch bei einer vagen, die naturwissenschaftliche Entdeckungsgeschichte bloß nacherzählenden Form – vom Beginn der systematischen Beschreibung elektrischer und magnetischer Phänomene durch den englischen Arzt William Gilbert (1544–1603), über die Entdeckungen zur Leitfähigkeit gut 120 Jahre später bis zum Versuch einer Wesensbestimmung im Anschluss an den großen amerikanischen Aufklärer Benjamin Franklin (1706–1790): "Man hat die elektrischen Erscheinungen … einem einzigen besonderen elektrischen Fluidum, Elektrikum genannt, zugeschrieben. Dieses stellte man sich als eine schwerelose, höchst feine und ausdehnsame elastische Flüssigkeit vor, deren Teilchen einander abstoßen, dagegen die Teilchen der wägbaren Körper anziehen."
Kann "Elektricität" gestohlen werden?
Worin das "Wesen" der Elektrizität liegen könnte, war also um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch keine ausgemachte Sache – wenngleich ihre technische Nutzung bereits in vollem Gang war, wie es auch der "Brockhaus" im technischen Optimismus der Epoche reich illustriert belegte.
Wo ein ökonomischer Vorteil entsteht, findet sich stets jemand, der ihn widerrechtlich ausnutzt: Zwischen dem 12. und 17. Januar 1895 hatte der spätere Angeklagte nach den Feststellungen des Landgerichts (LG) Kiel einem örtlichen Elektrizitätswerk "elektrischen Strom für seinen Motor in der Absicht rechtswidriger Zueignung entnommen".
Die Richter der Vorinstanz sahen jedoch "weder den Thatbestand des Diebstahls noch den der Unterschlagung" als erfüllt an, "weil die Elektrizität oder der elektrische Strom als eine bewegliche 'Sache' im Sinne des § 242 St.G.B.'s nicht gelten könne".
Das LG Kiel hatte einen Gutachter gehört, der referierte, dass die Wissenschaft "mehr und mehr" von der Vorstellung abgehe, dass "ein Strom, ein Fluidum übertragen werde, und neige sich der Auffassung zu, daß die Elektrizität keine selbständige Sache sei, sondern ein Zustand, der längs des Leitungsdrahtes vermittelt werde und vermutlich in Schwingungen kleinster Teile (Moleküle) der Körper bestehe. Die nähere Kenntnis hierüber fehle noch, wie überhaupt das Wesen der Elektrizität noch nicht erschöpfend festgestellt sei."
Weil nach §§ 242, 246 Strafgesetzbuch (StGB) eine "Sache" zum Tatbestand des Diebstahls oder der Unterschlagung zähle und unter "Sachen im Allgemeinen ein Stück der vernunftlosen Natur" zu verstehen sei, deren Begriff wiederum wesentlich durch ihre Körperlichkeit bestimmt werde, komme eine Strafbarkeit nicht in Betracht. Es "könnten unkörperliche Dinge, wie z. B. Rechte, geistige Erzeugnisse, Maschinenkraft, nicht Gegenstand des Diebstahls sein".
Reichsgericht erklärt Wesen der Elektricität zur Tatfrage
In dieser Sache der in der schleswig-holsteinischen Provinz entzogenen elektrischen Leistung sicherte das Reichsgericht mit Urteil vom 20. Oktober 1896 nur seine Auffassung ab, dass als Gegenstand von Diebstahl oder Unterschlagung allein eine irgendwie körperliche Sache in Frage komme – einerlei ob fest, flüssig oder gasförmig.
Nur darin liege die Rechtsfrage, die es als Revisionsgericht klären könne. Nach § 376 Strafprozessordnung (StPO) a.F. sei es aber keine Rechts-, sondern eine Tatfrage, ob die Kieler Richter das Wesen der Elektrizität vom Standpunkt der modernen Naturwissenschaft richtig eingeschätzt hätten.
Es könne "jedenfalls keine Rede davon sein, daß notorisch oder allbekanntermaßen die Elektrizität ein Fluidum, d. h. ein Stoffliches flüssiger oder gasförmiger Art sei. Wenn sich daher der erste Richter auf Grund der stattgehabten Beweisaufnahme und namentlich der Ausführungen des Sachverständigen für die Ansicht entschieden hat, daß die Elektrizität kein Fluidum, kein Stoff irgendwelcher körperlicher Art, sondern eine Kraft, ein Zustand sei, in den gewisse Gegenstände durch technische Manipulationen versetzt werden, so ist darin auf keinen Fall ein Rechtsirrtum zu finden."
Gesetzliche Lösung ohne Strafzuschlag für intelligente Kriminelle
Durch das "Gesetz, betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit" vom 9. April 1900 entlastete der Gesetzgeber die Gerichte von der Frage, was es mit der elektrischen Leistung auf sich habe. § 1 des Gesetzes bedrohte jeden, der "einer elektrischen Anlage oder Einrichtung fremde elektrische Arbeit mittels eines Leiters entzieht, der zur ordnungsmäßigen Entnahme von Arbeit aus der Anlage oder Einrichtung nicht bestimmt ist", mit Gefängnis- und mit Geldstrafe bis zu fünfzehnhundert Mark, "wenn er die Handlung in der Absicht begeht, die elektrische Arbeit sich rechtswidrig zuzueignen".
Obwohl diese seit 1953 als § 248c StGB in das StGB übernommene Regelung erkennbar dem Tatbestand des § 242 StGB nachgebildet war, verzichtete sie darauf, die oft zur entwürdigenden und existenzvernichtenden Zuchthausstrafe hin qualifizierenden Vorstellungen des Diebstahlsrechts zu übernehmen.
Im Fall eines Diebstahls, bei dem der Täter oder die Täterin besonderen technischen Sachverstand an den Tag legte, zum Beispiel durch den Gebrauch von "falschen Schlüsseln", war nach § 243 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht nur die bis heute geltende Ausweitung des Strafrahmens von fünf auf zehn Jahre zu beachten: Bis zu ihrer Abschaffung durch Gesetz vom 25. Juni 1969 drohte dem ingeniösen Dieb, der MINT-kundigen Diebin schnell auch die Zuchthausstrafe.
Wer sich hingegen an fremder elektrischer Leistung zu schaffen machte, was eine gewisse technische Grundfertigkeit doch voraussetzt, dem drohte nur das Gefängnis – eine Strafform, die nicht als entehrend galt und mit etwas Mühe sozial noch aufzufangen war. Gut möglich, dass sich der Gesetzgeber vom Gedanken leiten ließ, die bürgerlichen Urenkel Benjamin Franklins gehörten selbst dann in kein Zuchthaus, wenn sie elektrisch langfingrig geworden waren. Mit wem man es in den ingeniösen Fragen der "Elektricität" im Idealfall zu tun hatte, wusste man ja im Zweifel aus dem "Brockhaus".
Gesetzliche Regelung löst Jurisprudenz von Naturwissenschaft
Über die Notwendigkeit, den volkstümlich "Stromdiebstahl" genannten Vorgang gesondert gesetzlich zu regeln, wurde zwar nicht ausführlich unter Juristen gestritten – man war wohl dankbar, sich mit der unübersichtlichen Naturwissenschaft nicht weiter befassen zu müssen –, zarte Bedenken finden sich aber selbst in so populären Werken wie der Strafrechtskommentierung durch Reinhard Frank (1860–1934).
Der durch die "Frank'schen Formeln" unter deutschen Juristinnen und Juristen bis heute weltberühmte Gelehrte merkt 1931 in einer späten Auflage seines Werks an, dass die "neuere Physik geneigt" sei, "in der Elektrizität eine Materie, also eine Sache, zu sehen". Als Sohn eines Fabrikeigentümers und selbst sowohl unternehmerisch wie mathematisch-technisch interessierter Jurist war Frank das eigentliche Wesen der Elektrizität immerhin noch eine Randbemerkung wert. Spätere Kommentare beriefen sich hier oft nur noch auf das Gesetz oder einen anderen juristischen Welterklärungsmodus: die elektrische Leistung sei nach herrschender Meinung keine körperliche Sache.
Vor allem in Deutschland waren Fragen wie die nach der inneren Natur der Elektrizität bis zu diesem Zeitpunkt und darüber hinaus stark umkämpft. In einer kleinen, womöglich als Doktorarbeit dienenden Schrift unter dem Titel "Aether und Materie" versuchte sich noch im Jahr 1933 ein Münchener Gelehrter namens Georg Wilhelm Karl Waldmann um den mathematischen Beweis, dass hinter oder unter der Elektrizität eine andere, gleichsam feinstoffliche Substanz liege: der "Äther" – ein von der älteren Physik gedachtes Trägermedium, das die Ausbreitung des Lichts erklären sollte. Durch die spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins (1879–1955) war dies aber bereits hinfällig.
Derlei gehörte in die Vorstellungswelt der Afterwissenschaft einer völkischen "Deutschen Physik": Konfrontiert mit dem Schrecken eines weitgehend leeren Universums sah man allenthalben feinstoffliche Strukturen wabern. Die moderne Physik, die sich dem gewachsen sah, wurde als jüdische Erfindung abgelehnt – Juristen brauchten sich hiermit schon deshalb nicht mehr zu befassen, weil durch das Gesetz aus dem Jahr 1900 strafrechtsdogmatische Gedanken zum wahren Wesen des Elektrons irrelevant geworden waren.
Kriminologisch wurden übrigens das "Gesetz, betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit" und seine Nachfolgeregelung, § 248c StGB, vergleichsweise wenig angewendet – gemessen am Diebstahl. Ob das so bleiben wird, wenn elektrische Leistung künftig zu einem stark verteuerten Wirtschaftsgut werden sollte, steht auf einem anderen Blatt.
Reichsgericht, Urteil vom 20.10.1896, Az. 2609/96, RGSt Bd. 29, 111–116.
Zur Strafbarkeit des "Stromdiebstahls": . In: Legal Tribune Online, 03.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46193 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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