Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 endete die staatliche Existenz der DDR. Eingemottet wurde damit auch das Oberste Gericht der DDR. Martin Rath erinnert an dessen Funktion als erste und letzte Instanz in politischen Strafprozessen, in denen es um Sabotage, Spionage und Boykotthetze ging.
DDR-Nostalgiker, so könnte man meinen, leiden unter Gedächtnisverlust, wenn es um die Staatssicherheit geht. Manchmal hört man es immer noch, das kritiklose Schwärmen von der menschlichen Stallwärme im Plattenbau- und Datschen-Staat. Ein wenig kann geholfen werden: Zu den letzten Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR zählt ein Urteil vom 11. April 1990, das eine vergleichsweise heitere Parabel zu Enge und Ende des SED-Staats zeichnet (Az. 2 OZK 10/90).
Es war ein Fall aus der Ostblock-Selbstversorgungswirtschaft: In einer Kleinsiedlung stritten sich Nachbarn über die Schweinehaltung der einen Prozesspartei. Die Grenzmauer zwischen ihren Grundstücken war auf zehn Metern Länge zugleich die Stallmauer. Das Kreisgericht hatte die Beklagten verurteilt, die Zahl der Schweine auf drei Tiere zu beschränken. Das Bezirksgericht Leipzig hob dieses Urteil auf und ordnete an, die Schweine vollständig abzuschaffen.
Schließlich befasste sich das Oberste Gericht der DDR (OG) mit der Sache und gab dem "Kassationsantrag des Präsidenten des Obersten Gerichts" statt – diesem außerordentlichen Rechtsbehelf des DDR-Prozessrechts. Es dürfte einer der letzten Anträge des OG-Präsidenten gewesen sein: Dr. Günter Sarge, vormals Militärrichter, Generalmajor a.D. und SED-Mitglied, hatte nach Kritik aus der Volkskammer am 18. Januar 1990 seinen Hut genommen. Ein zivilrechtlicher Kassationsantrag zumal über Schweinedunst als eine seiner letzten richterlichen Handlungen, wofür das kleine Aktenzeichen spricht – das erheitert ein wenig. Denn ein OG-Richterkollege schrieb über Sarge, für seine fachliche Kompetenz sei es charakteristisch gewesen, dass Sarge meinte "alle Rechtsgebiete außer dem Strafrecht seien unbedeutend".
Absurd bis brutal
In das insgesamt heitere und friedliche Jahr, in dem die DDR 1989/90 ihrem Ende entgegenging und an das man sich so gerne erinnert, passt dieses Fundstück vom Zivilrechtsverächter, der sich einem Fall von Stallgeruch annahm. Doch entnehmen wir die Charakterisierung des letzten OG-Präsidenten einem Band zur Aufarbeitung der politischen DDR-Strafrechtsgeschichte. Der vormalige Oberrichter Rudi Beckert legte sie unter dem Titel "Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR" bereits 1995 vor. Heiterkeit, trotz vieler Absurditäten der Justizmisswirtschaft, weckt dieses Buch nicht.
Zwischen seiner Gründung im Dezember 1949 und einer Änderung der DDR-Strafprozessordnung 1972 war das OG in erster und letzter Instanz zuständig für Delikte des politischen Strafrechts – Schicksale unter dem Aktenzeichen "I ZSt I". Auch aus dem Strafprozessrecht des Deutschen Reichs wie der Bundesrepublik Deutschland kennt man die Funktion des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs als erste und letzte Instanz, beispielsweise in Hochverratssachen. In formalen Ähnlichkeiten oder auch formaler Fortgeltung alten Rechts zeichnete sich in der DDR aber eher eine Travestie ab: Hans Nathan (1900-1971), prominenter Vertreter der frühen DDR-Rechtswissenschaft und -Politik, erklärte beispielsweise ausdrücklich, dass man mit den "alten Normen" noch eine Weile leben müsse, sie aber im Geiste von Marx, Lenin und Stalin anzuwenden habe.
Insbesondere die politische Justiz war weit vom klassischen juristischen Subsumtionsanliegen, der Begründung von Rechtsfolgen mittels Auslegung von Normen, entfernt. Das Gegenteil war Programm. Ernst Melsheimer (1897-1960), während der NS-Zeit Landgerichtsdirektor und Richter am Reichsgericht, nun erster Generalstaatsanwalt der DDR, erklärte das Strafrecht zur "Waffe" des neuen Staates und der herrschenden Arbeiterklasse und -partei.
Beckert berichtet von den Prozessen dieser Jahre vor dem Obersten Gericht, in denen regelmäßig Melsheimer als Ankläger und die berühmt-berüchtigte SED-Justizpolitikerin Hilde Benjamin (1902-1989) als Vorsitzende Richterin fungierten.
Martin Rath, Oberstes Gericht der DDR: . In: Legal Tribune Online, 03.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9730 (abgerufen am: 15.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag