Der 19. Mai ist in den USA regional dem Andenken an den afroamerikanischen Prediger Malcolm X gewidmet. Er wirft bis heute Fragen zu Inklusion und Rassismus, zu politischer Gewalt und zur Durchsetzung von Menschenrechten auf.
Gott und seine militanten Diener spielen in der amerikanischen Geschichte eine Rolle, die unterschätzt, wer nur an lustige Begebenheiten wie den Streit um die Evolutionstheorie oder den Justizminister George W. Bushs denkt, der sich nach biblischer Maßgabe selbst das Haupt mit Salatöl salbte.
Religion und Politik finden sich oft erstaunlich verquer miteinander verquickt. Zum Feuerwerk, das am Vorabend von Donald Trumps Amtseinführung abgebrannt wurde, intonierte z.B. ein Militär-Chor höchst süßlich die "Battle Hymn of the Republic". Das patriotische Lied mit der Refrainzeile "Glory, glory, hallelujah!" kennt man auch hierzulande.
Das Marschlied aus der Zeit des US-Bürgerkriegs ist an sich schon geeignet, solide säkular denkende Europäer zu befremden, singt es doch voll biblischer Metaphern von der Ankunft Gottes respektive des Messias auf Erden, der sich in den Feldzug für die gerechte Sache einreiht. Doch es hat mit ihm eine noch ärgere Bewandtnis: Melodie und Refrain der "Battle Hymn" kopieren das ältere Marschlied "John Brown's Body" – eine Eloge auf den radikalen Sklaverei-Gegner John Brown, der 1859 wegen Mordes an Sklavenhaltern, gewaltsamer Sklavenbefreiung und Hochverrats hingerichtet wurde. Singen geschichtsbewusste Afroamerikaner die "Battle Hymn" mit, greifen sie gelegentlich auf die Zeilen zum Lob des terroristischen Abolitionisten John Brown zurück.
Geburtsname: Malcolm Little
Das historische Beispiel der Verquickung des politischen Ziels, der Sklaverei ein Ende zu bereiten, mit einem apokalyptischen Christentum amerikanischer Façon ist wichtig. Denn im Fall von Malcolm X ist an einen politischen Kopf zu erinnern, der sich bis kurz vor seiner Ermordung am 21. Februar 1965 mit der "Nation of Islam" einer im Wortsinn eigenartigen religiösen Lehre verschrieben hatte und der sich im Laufe seines Lebens - wie man wohl im heutigen, etwas einfältigen Staatschutzvokabular sagen würde - radikalisierte.
Malcolm X kam am 19. Mai 1925 unter dem Geburtsnamen Little zur Welt. Sein Vater, Earl Little, war Anhänger des radikalen panafrikanischen Publizisten Marcus Garvey (1887–1940) und wiederholt Ziel von Angriffen des Ku-Klux-Klan. 1929 zog die Familie in eine "weiße" Wohngegend in der Nähe von Detroit. Bevor der Kauf des Hauses wegen der inopportunen Rasse der Littles rückgängig gemacht werden konnte, brannte es ab. Der Vater wurde der Brandstiftung bezichtigt. 1931 kam Earl Little unter verdächtigen Umständen zu Tode, die Auszahlung der Lebensversicherung wurde wegen angeblichem Suizid verweigert. Die Mutter erkrankte psychisch.
Im Heim und in Pflegefamilien untergebracht, erlangte Little den Highschool-Abschluss. Ein Lehrer trieb dem begabten Schüler indes den Gedanken aus, Rechtsanwalt werden zu können. Mit 18 Jahren im New Yorker Stadtteil Harlem angelangt, verdingte sich Little in Drogenhandel, Diebstahl, Glücksspiel und Zuhälterei, möglicherweise auch als Prostituierter für männliche Kunden.
Radikalisierung im Gefängnis
In Boston aufgegriffen und verurteilt, trat Little im Februar 1946 eine auf acht bis zehn Jahre befristete Haftstrafe an. Ein Mitgefangener machte Little mit der "Nation of Islam" vertraut, einer 1930 gegründeten politischen und religiösen Gesellschaft, die seit 1934 unter der Führung von Elijah Muhammad (1897–1975) stand. Sie hatte sich die geistige und soziale Entwicklung von Afroamerikanern mit den Mitteln eines recht eigenartigen muslimischen Bekenntnisses auf die Fahnen geschrieben – theologisch kein ganz so krudes US-Eigengewächs wie die Mormonen, in jüngster Zeit dafür mit Verbindungen zu L. Ron Hubbards Scientologen.
Nach kaltem Kokainentzug, Bekehrung zur "Nation" und im Übrigen umfangreichen autodidaktischen Studien in der Gefängnisbücherei kam Little im August 1952 auf Bewährung frei. Der redegewandte Malcolm X, der sich wie andere Angehörige seiner Sekte mittlerweile des "Sklavennamens", Little, entledigt hatte, avancierte zum erfolgreichen Prediger und Leiter von "Nation of Islam"-Dependancen, Die Organisation wuchs von einigen Hundert auf einige Zehntausend Mitglieder an.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Malcolm X 1957 nach dem Protest gegen einen rassistischen Polizeiübergriff in New York bekannt. Hilfreich erwiesen sich hier die erhöhte Reichweite von Radio und neuem Fernsehen.Treffen mit Führern der zumeist sozialistischen Führer der entkolonialisierten Staaten Afrikas, auch mit dem frisch gebackenen Diktator Kubas, seinem Altersgenosse Fidel Castro (1926–2016), folgten.
Bürgerrechte oder spiegelverkehrter Rassismus?
Zu den Lehren der "Nation of Islam", denen Malcolm X beredt Ausdruck gab, zählten – jeweils mit theologischem Überbau und mehr oder weniger politischer Stoßrichtung – Behauptungen wie jene, dass Schwarze die ursprünglichen Menschen seien und Weiße dagegen eine degenerierte Abart, denen die Schwarzen überlegen seien.
Gelegentlich war die sonderbare islamische Doktrin von allgemeinem Nutzen für die Bürgerrechte. Im Verfahren SaMarion v. McGinnis klagten z.B. Insassen des New Yorker Staatsgefängnisses Attica mit dem Anliegen, dass ihre religiösen Bedürfnisse als Angehörige der "Nation of Islam" anerkannt werden, u.a. hinsichtlich der Ernährungsgebote oder der Gefängnisseelsorge. Malcolm X trat hier als sachverständiger Zeuge auf.
Der Sache stand allerdings das 1871 im Fall Ruffin v. Commonwealth besonders drastisch formulierte "besondere Gewaltverhältnis" amerikanischer Art entgegen, wonach Strafgefangene als "Sklaven des Staates" zu betrachten seien: Sie genössen, über das nackte Überleben hinaus, nur jene Rechte, die der Staat ihnen zugestehe.
Während eine Basisversorgung mit christlichen Erbauungsübungen zum Regelprogramm des US-Strafvollzugs zählte, warf erst die Klage der "Nation of Islam" nun die Frage auf, ob die Religionsfreiheit in der Haft verfassungsfest gesichert sei.
Keine Kooperation mit Martin Luther King
Allerdings ließ der Sonderweg der "Nation" keine Kooperation zu. Während sich in der Bürgerrechtsbewegung rund um den baptistischen Geistlichen Martin Luther King (1929–1968), beispielsweise in den Kampagnen zur Registrierung afroamerikanischer Wähler, auch weiße christliche und jüdische Studenten engagierten, waren für Malcolm X alle Weißen "blauäugige Teufel". Bis heute ist im Übrigen in der "Nation of Islam" vor allem ein ausgeprägter Antisemitismus zu beobachten.
Die Trennung von Wohngebieten nach Hautfarbe gibt ein Beispiel dafür, wie sich die Wege in der Bürgerrechtsbewegung trennten: Präsident John F. Kennedy (1917–1963) hatte nur eine Verwaltungsdirektive ("Executive Order") zum Problem erlassen. Da die Rassentrennung in der Wohnungsversorgung US-weit überwiegend privatrechtlich durchgesetzt wurde – von der Immobilienanzeige über Maklerverträge bis zu satzungsrechtlichen Verboten, Gebäude an sogenannte Coloreds zu vergeben – blieb Kennedys Erlass ohne rechtliche Außenwirkung.
In dieser Frage leistete der King-Flügel der Bürgerrechtsbewegung wertvolle Lobbyarbeit, um ein gesetzliches Diskriminierungsverbot mit Wirkung gegen Private zu erreichen. Der Malcolm-X-Flügel opponierte zwar gegen die Macht des teuflischen, weißen Ausbeuters, nicht aber gegen die räumliche Trennung der Lebenswelten.
Der "Fair Housing Act" kam 1968 zustande, – wie schon der "Civil Liberties Act" (1964) – unter scharfer Opposition der Demokratischen Partei in den Südstaaten. Hier verbergen sich – nebenbei – Konflikte bis heute: Während der republikanische Abgeordnete George H.W. Bush gegen den erklärten Willen seiner texanischen Wähler für die Beseitigung der Wohnungsapartheit votierte, geriet eine bekannte und eher demokratisch vernetzte Familie von Immobilien-Geschäftemachern aus New York, nachhaltig mit dem Gesetz in Konflikt.
"Nigger with a library card"
Seit dem Jahr 1963 ging Malcolm X auf Distanz zur "Nation of Islam", da ihm die persönliche Bereicherung ihres Anführers Elijah Muhammad bewusst wurde und dieser eine Reihe von sexuellen Vorrechten zulasten der jungen Frauen der Religionsgesellschaft beanspruchte. Bei seiner Pilgerreise nach Mekka, im April 1964, traf Malcolm X zudem auf die ethnische Vielfalt dunkel- wie hellhäutiger Muslime, die sich mit dem im Kern rassistischen Ansatz der "Nation of Islam" nicht vertrug.
Herauszufinden, ob dies zu einer Vereinigung des radikalen mit dem sozialliberalen Flügel der Bürgerrechtsbewegung genügte, blieb keine Zeit. Am 21. Februar 1965 wurde X, der sich nun El Hajj Malik el-Shabazz nannte, von Angehörigen der "Nation" ermordet. Wie weit das damals vom höchst fragwürdigen J. Edgar Hoover (1895–1971) geleitete FBI dies hätte verhindern können, ist bis heute umstritten.
Das popkulturelle, intellektuelle und juristische Nachleben von Malcolm X ist vielfältig. In Spike Lees Streifen "Malcolm X" (1992) trat beispielsweise Nelson Mandela (1918–2013), der im Jahr zuvor erst aus der Haft entlassen worden war, in seiner einzigen Spielfilm-Rolle, als Lehrer in Soweto, auf und zitierte X als Vertreter der internationalen Pflicht, Rassendiskriminierung zu beenden.
Ein schlaues Denkmal setzte die Fernsehserie "The Wire" (2002–2008). In der Folge 2/10 erklärt die im "Nation of Islam"-Habitus auftretende Figur Brother Mouzone: "You know what the most dangerous thing in America is, right? Nigger with a library card." Das ist eine schöne Referenz für das intensive Selbststudium in Bibliotheken, dem nicht allein Malcolm Little seine eigensinnige intellektuelle Entwicklung zu verdanken hatte. Und der juristische Kampf um die Ausstattung von Gefängnisbibliotheken – auch mit der Autobiografie von Malcolm X – war Anfang der 1970er Jahre eine wichtige Station in der Emanzipation der afroamerikanischen Strafgefangenen und im Kampf gegen das archaische Konstrukt der besonderen Gewaltverhältnisse.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Bürgerrechte in den USA: . In: Legal Tribune Online, 19.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28711 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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