Was ist ein Rechtsgrund, sich scheiden zu lassen? Heute wird die Frage nur mit Blick auf persönliche Anliegen beantwortet. Mit Instituten wie dem "böslichen Verlassen" herrschte hingegen rund 400 Jahre lang eine konfessionelle Orthodoxie.
"Ehe: Zustand … einer Gemeinschaft, die aus einem Herren, einer Herrin und zwei Sklaven besteht, insgesamt also aus zwei Personen."
Dem amerikanischen Journalisten Ambrose Bierce (1842–1914), der als junger Mann im unvorstellbar brutalen amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) gekämpft und – wie seine zynische Definition der Ehe belegt – kein unbedingt rosiges Menschenbild mit auf seinen weiteren Lebensweg genommen hatte, würde die Bezeichnung deutscher Juristen für die mutwillige Flucht von Gattinnen oder Gatten aus der Ehe wohl sehr gut gefallen haben – gesprochen wurde vom "böslichen Verlassen" oder, etwas gelehrter, von der "Desertion".
Dieser Rechtsbegriff führt zurück in eine Welt, in der Deutschland in einem heute kaum vorstellbaren Ausmaß von der christlichen Orthodoxie protestantischen Zuschnitts geprägt war – uns ist sie fremd geworden, wie die fast manischen Kettensätze des Reichsgerichts.
Ehe? – Auf den Willen kommt es nicht unbedingt an
Zum harmlosen Einstieg taugt ein Fall, in dem das Reichsgericht heute vor 125 Jahren urteilte: Hier hatte die Frau den Mann zunächst mit seinem Einverständnis verlassen, war aber auf seinen Wunsch hin nicht zu ihm zurückgekehrt, sodass ihm nach einer gewissen Frist das Recht zustand, auf die Scheidung der Ehe wegen "böslichen Verlassens" zu klagen.
Zwar war das Berufungsgericht der Auffassung gewesen, dass die Erklärung der Frau im sogenannten Desertionsprozess, zu ihrem Gatten zurückkehren zu wollen, nicht ernst gemeint gewesen sei, es hatte die Scheidungsklage aber trotzdem abgewiesen, weil auch der Mann nicht ernsthaft den Willen gezeigt habe, seine Gattin wieder bei sich aufzunehmen.
Das Reichsgericht entschied hingegen in wunderbar gewundenen Kettensätzen, dass in einer solchen Sachlage die Scheidungsklage nur dann scheitern könnte, wenn sich der Mann tatsächlich weigern würde, die Gattin wieder aufzunehmen, es dem Gericht aber bis zu diesem Punkt untersagt sei, seinen bis dahin mit gerichtlicher Hilfe verfolgten Wunsch in Zweifel zu ziehen, die Gattin wieder in die Ehe zu zwingen – oder eben, wenn sie sich weiter rechtsgrundlos weigere, zu ihm zurückzukehren, die Scheidung zu erhalten (Urt. v. 28.06.1895, Az. III 112/95).
300 Jahre altes protestantisches Recht, vom staatlichen Gericht zu berücksichtigen
Der Scheidungsgrund des "böslichen Verlassens" war eine Erfindung des deutschen Protestantismus. Während die katholische Kirche bis heute die stark romantische Vorstellung pflegt, dass Frau und Mann einander vor Gott das Sakrament der Ehe spenden – der Priester steht eher nutzlos daneben – und sich von diesem heiligen Akt kaum wieder lösen können, erklärte Martin Luther (1483–1546) in der sogenannten Reformation die Ehe zum rein äußerlichen Ding.
Damit war zwar grundsätzlich der Weg zu ihrer Beendigung durch autonome Entscheidung der Gatten geöffnet worden, doch sollte ein Bündnis aus Staatsgewalt und orthodoxer protestantischer Geistlichkeit das Scheidungsrecht sehr eng ausgestalten – denn nun äußerte die weltliche Obrigkeit ein Interesse daran, dass sich die Eheleute nicht frei aus der kleinsten Zelle des Staates würden lösen können.
Als sogenanntes gemeines protestantisches Eherecht hatten die staatlichen Gerichte die Voraussetzungen und Begrenzungen des von evangelischen Geistlichen und Landesherren etablierten Scheidungsanspruchs daher mit Blick auf teils Jahrhunderte alte kirchliche Regelungen zu berücksichtigen.
Ein Beispiel gibt das Urteil des Reichsgerichts vom 4. Juni 1887 (Az. I 85/87). Hier hatte der Mann seine Frau gegen ihren Willen und trotz Aufforderung, zu ihr zurückzukehren, über einen hinreichend langen Zeitraum absentiert, sodass ihr nach dem ersten Augenschein das Recht zustand, sich von ihm wegen böslichen Verlassens scheiden zu lassen – von der Frage, wen die Schuld an der Scheidung traf, hingen unter anderem die Auseinandersetzung des Vermögens, der Verbleib der Kinder und die Frage ab, ob Unterhalt zu leisten war.
In diesem Fall war die Desertionsklage der Frau jedoch durch den Umstand pikant geworden, dass sie in der Zwischenzeit – ohne Beteiligung ihres Gatten – ein Kind bekommen hatte. Die Vorinstanzen verneinten daher ihren Anspruch auf Scheidung, denn seine böse Flucht aus der Ehe sei sozusagen durch ihren Ehebruch kompensiert worden.
Das Reichsgericht monierte, dass nach dem gemeinen, also grundsätzlich deutschlandweiten protestantischen Eherecht eine solche Kompensation des Scheidungsanspruchs aufgrund böslichen Verlassens durch Ehebruch nicht gegeben, hier konkret jedoch zu prüfen sei, ob die in Mecklenburg geltende Kirchengerichts- und Konsistorialordnung vom 31. Januar 1570 beim Zusammentreffen von Eheflucht und Ehebruch etwas anderes regele. Entsprechend verwies es die Sache nach Mecklenburg zurück, wo das über 300 Jahre alte evangelische Kirchenrecht vom staatlichen Gericht neuerlich zu prüfen war.
In einer ganz anderen Angelegenheit erklärte das Reichsgericht wenige Jahre später, dass das vermeintlich säkulare hamburgische Eherecht kaum etwas anderes sei als das gemeine protestantische Recht (Urt. vom 07.04.1892, Az. VI 9/92).
Übertragung der protestantischen Orthodoxie auf alle Deutschen
Im Fall sogenannter Mischehen – zwischen katholischen und protestantischen Gatten – stellte sich bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am 1. Januar 1900 die Frage, welches Recht anzuwenden war – für evangelische Eheleute war das "bösliche Verlassen" ein Scheidungsgrund, für katholische bestenfalls Anlass, bei zwingend fortbestehender Ehe keine besondere Rücksicht mehr auf die Vermögens- und Unterhaltsinteressen des desertierten Gatten nehmen zu müssen.
Obwohl unter der kulturellen Hegemonie des deutschen Protestantismus die Katholikinnen und Katholiken im Kaiserreich als Angehörige einer intellektuell rückständigen, fast staatsfeindlichen Minderheit galten, die ihre Treue dem Papst, also einer Art orientalischem Herrscher außerhalb der Staatsgrenzen geschworen hatten, hielten sich die Gerichte bei der Anwendung des gemeinen protestantischen Desertionsrechts auf solche gemischten Ehen zurück, wie beispielsweise Urteile vom 7. Juni 1884 (Az. I 80/84) und vom 27. Februar 1899 (Az. VI 322/97) zeigen: Ohne zu einer wirklich schlüssigen Heuristik zu gelangen, welches kirchliche Recht hier greifen solle, erklärte das Reichsgericht, dass es – ungeachtet einer vielfach geäußerten Sympathie für das des hegemonialen Protestantismus – mangels einer gesetzlichen Regelung nicht sein könne, dem einen oder dem anderen den Vorzug zu geben.
Doch während die katholische Minderheit durch ihre relative politische Stärke insoweit vor dem protestantisch-orthodoxen Durchgriff geschützt blieb, galt dies nicht für Jüdinnen und Juden.
Beeindruckend ist hier das Urteil des Reichsgerichts vom 2. März 1880 (Az. III 63/79): Die im hessischen Hanau wohnhaften Verfahrensgegner hatten am 23. Juni 1868 vor dem Rabbinat in Würzburg die Ehe geschlossen. Der Mann war später nach §§ 267, 268, 280, 283 StGB zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden, auch hatte er das in die Ehe eingebrachte Vermögen seiner Gattin an der Börse verspielt.
In der Frage, ob nur eine lebenslange oder – wie hier – womöglich bereits eine zeitige Zuchthausstrafe als dem "böslichen Verlassen" gleichgestellte Trennung des Gatten von der Frau zu bewerten sei, war nach Feststellung des Reichsgerichts für die jüdischen Eheleute das partikulare hessische Recht der evangelischen Kirche und die für Hanau geübte Ehescheidungspraxis des protestantischen Konsistoriums einschlägig. Von Rücksichtnahme auf die religiöse Minderheit keine Spur: Weil im Revolutionsjahr 1848 das vormalige Sonderrecht für die kurhessischen Juden aufgehoben worden war, galt für sie nun in Scheidungsanliegen schlicht das protestantische Kirchenrecht.
"Bösliches Verlassen" im Bürgerlichen Gesetzbuch
Das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene BGB machte derartige Übersetzungen des protestantisch-orthodoxen in staatliches Eherecht perfekt.
Denn in der Ausgestaltung der Tatbestände folgte das neue staatliche Recht weitgehend der Tradition des evangelischen Kirchenrechts, indem es den Ehebruch bedingt als Scheidungsgrund zuließ (§ 1565 BGB), für Misshandlungen in der Ehe einen durchaus hohen Maßstab anlegte, der zweifellos nur dann erfüllt war, wenn ein Gatte dem anderen "nach dem Leben trachtet" (§ 1566 BGB) und schwerer zu belegen war, wenn es sich um körperlich nur leichte, aber nicht "ehrlose" Verletzungen des Gatten handelte (§ 1568 BGB). Selbstverständlich fand auch das evangelische Rechtsinstitut des "böslichen Verlassens" (§ 1567 BGB) eins zu eins Platz im staatlichen Gesetzbuch.
Wenn heute eine intellektuelle Kritik daran nicht mehr laut wird, dass hier die Lehren Luthers sowie orthodox-evangelischer Geistlicher und Juristen zum Pflichtprogramm für alle Menschen in Deutschland gemacht wurden, ist dies dem NS-Gesetzgeber zuzuschreiben: Durch das "Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet" wurde 1938 das normtechnische und dogmatische "Durchkopieren" des protestantischen Kirchen- ins staatliche Eherecht unsichtbar gemacht – jedoch nicht ganz ungeschehen, wie die bis heute bestehende "Undenkbarkeit" einer katholisch unscheidbaren ebenso wie einer libertär oder schiitisch konstruierten Ehe auf Zeit belegt.
Klug oder dumm, romantisch oder lieblos – dogmatisch enggeführt jedenfalls bleibt das Nachdenken darüber, ob und wie eine moderne Gesellschaft Sexualität und biologische Reproduktion gesetzlich regeln will. Nur fehlen heute Rechtsinstitute wie das "bösliche Verlassen", die daran erinnern, woher diese Enge stammt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.
Geschichte des Scheidungsrechts: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42022 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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