1968 erschien die Habilitationsschrift von Bernd Rüthers. Der Titel ist mittlerweile ein geflügeltes Wort: "Die unbegrenzte Auslegung". Nun erscheint die neunte Auflage. Anlass für eine Verneigung findet Sebastian Felz.
Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende warnt Hans Brox scharf: "Herr Rüthers, Sie spinnen wohl! Die leben doch alle noch. Von Ihnen nimmt, wenn Sie das schreiben, kein Hund ein Stück Brot. An Rufe, wenn Sie damit habilitiert werden, ist nicht zu denken". Was war geschehen? Bernd Rüthers hatte seinem akademischen Lehrer Brox, Mr. BGB und „Standardautorität“ (Wikipedia) der Fernsehsendung "Wie würden Sie entscheiden", den Vorschlag unterbreitet, die Entwicklung des Zivilrechts im Nationalsozialismus zu untersuchen. Mit dieser Analyse wollte sich Rüthers habilitieren.
Im Sommersemester 1950 hatte er in Münster mit dem Jurastudium begonnen. 1958 wurde er mit einer Arbeit über „Streik und Verfassung“ promoviert. Rüthers hatte das Habilitationsangebot von Hans Brox und Harry Westermann angenommen und war 1963 aus der Wirtschaft, wo er bei Daimler-Benz als Direktionsassistent für Personalwesen arbeitete, in die akademische Welt zurückgekehrt. Mit wachsender Verwunderung hatte er bemerkt, dass im ersten Nachkriegsjahrzehnt weder an der Universität noch im Referendariat von der Rolle der deutschen Rechtswissenschaft und Justiz während des Nationalsozialismus die Rede war. In der Ausbildung herrschte ein bleiernes Schweigen über die NS-Zeit.
"Von Ihnen nimmt, wenn Sie das schreiben, kein Hund ein Stück Brot."
Rüthers war in seinem Habilitationsverfahren etwas unter Druck geraten, denn das ursprüngliche Thema seiner zweiten Qualifikationsschrift "Die Lehre von der Sozialadäquanz im Zivilrecht", welche von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit einem Stipendium gefördert wurde, war durch eine parallele Bearbeitung besetzt worden. Die erste Rate des Stipendiums war schon überwiesen worden, doch der fuchsschlaue Hans Brox entschied, dass sich sein Assistent ein neues Thema suche und der DFG nichts gemeldet werde. So sollte ein Zahlungsstopp und ein erneutes und langwieriges Antragsverfahren vermieden werden. Allerdings hatte der Habilitand dafür nur drei Wochen Zeit.
Seine Erfahrungen mit der "Schweigespirale" über die NS-Vergangenheit brachten Bernd Rüthers auf die Idee, ein Thema zu wählen, welches schon Inhalt von Vorträgen und Ringvorlesungen in der katholischen Studentengemeinde Münsters gewesen war: Die Rechtsperversion im Nationalsozialismus. Die Themenwahl hatte auch einen biographischen Hintergrund. Bernd Rüthers hatte als Achtjähriger im November 1938 erlebt, wie der jüdische Kaufmann Louis Sternberg mit seiner Familie, darunter die ebenfalls achtjährige Ingrid Sternberg, von einem Trupp alkoholisierter SA-Männer aus dem gemeinsam bewohnten Haus geprügelt und die Wohnung verwüstet wurde. Die jüdischen Hausmädchen wurde bei Familie Rüthers im Schlafzimmer versteckt. Am 10. November sagte Bernd Rüthers Vater beim Abendessen einen unvergesslichen Satz: "Ihr wisst jetzt, wir leben in einem Verbrecherstaat. Aber ihr dürft das niemals jemandem sagen."
Die alten Nazis saßen noch auf ihren Lehrstühlen
Hans Brox was dennoch not amused. Eine Arbeit über die Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus? Anfang der 1960er-Jahre? Die alten Nazis saßen 15 Jahre nach Kriegsende in der ganzen Republik auf ihren Lehrstühlen. Hans Brox schickte Rüthers zu Harry Westermann, der ähnliche Bedenken vorbrachte und Rüthers auf die Risiken verwies, insbesondere die Reaktion der eigenen Fakultätskollegen. Doch Rüthers setze sich durch und hatte Erfolg. Im Oktober 1966 wurde die Schrift unter dem Titel "Die Entwicklung der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus" eingereicht und schließlich als Habilitation angenommen.
Hans Julius Wolff, der Grandseigneur des deutschen Verwaltungsrechts, sperrte sich zunächst und lehnte das Werk als Habilitationsleistung ab. Rückenwind für den jungen Habilitanden kam vom Soziologen Helmut Schelsky. Schelsky war ein wichtiger Gelehrter der Nachkriegszeit und nicht unbelastet. Schon vor dem "Dritten Reich" war er Mitglied des "Nationalsozialistischen Schülerbundes", nachher SA- und NSDAP-Mitglied. Schelsky redete Klartext. Es sei an der Zeit, die Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus nüchtern und ungeschminkt aufzuarbeiten. Würde die Arbeit von Bernd Rüthers nicht als Habilitationsleistung anerkannt, sei die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster nicht länger seine Fakultät.
Daraufhin knickte Wolff ein. Bernd Rüthers wurde im Februar 1967 habilitiert. Schelsky war es auch, der Bernd Rüthers einen etwas schmissigeren Titel empfahl und ihm riet, für das "unseriöse" Thema (in den Augen der damaligen Zeitgenossen) einen "seriösen" Verlag zu finden. Schließlich kam die „Unbegrenzte Auslegung“ zum Traditionsverlag Mohr Siebeck.
Eine Hintertür für die nationalsozialistische Ideologie
Bernd Rüthers unterteilt seine Untersuchung in vier Kapitel. Als Vorläuferentwicklungen der richterlichen Korrektur des Rechts im Sinne des Nationalsozialismus analysiert er zunächst die richterliche Korrektur von Verträgen (Wegfall der Geschäftsgrundlage) als Folge wirtschaftlicher Veränderung im Ersten Weltkrieg sowie die judikative Korrektur des Gesetzes aufgrund der Hyperinflation 1923 und die "Mark gleich Mark"-Rechtsprechung des Reichsgerichts. An diesen Beispielen verdeutlicht Rüthers, dass durch §§ 157, 242 BGB eine "breit geöffnete Hintertüre" in der Privatrechtsordnung eingebaut worden war. Diese Hintertür erlaubte nicht nur die Berücksichtigung der wirtschaftlich-sozialen Entwicklungen aufgrund von Weltkrieg oder Inflation, sondern im "Dritten Reich" auch die Transformation von weltanschaulich-politischen Anschauungen ins Recht.
Im dritten Kapitel wendet sich Rüthers in zehn Abschnitten der nationalsozialistischen Rechtsideologie und ihrem Einbruch durch die Generalklauseln in das Zivilrecht zu. Einzelne Rechtsinstitute wie die Rechtsfähigkeit, das subjektive Recht, das Eigentum, der Vertrag, das Arbeitsverhältnis und die Ehe werden in ihrer völkisch-nationalsozialistischen Auslegung beschrieben. Schließlich denkt Rüthers im vierten Kapitel "der politischen Funktion der Rechtsanwendung" nach. Als das Buch im Herbst 1968 erschien, wurde der Autor von vielen Fachschaften eingeladen, während die Professorenschaft "kommunikativ schwieg", wie Rüthers im neuen Nachwort zur neunten Auflage berichtet. Als er in Bonn sein Buch vorstelle, nahmen "drei ältere Herren" in der letzten Reihe Platz. Es waren Abgesandte der Kölner Juristenfakultät. Zwar hatte die Berufungskommission in Köln den jungen Wissenschaftler auf Platz eins gesetzt; die Fakultätssitzung, welche die Liste beschloss, änderte jedoch die Reihung. Rüthers wurde als "grundsatzloser Relativist" nicht berufen. Ähnliches geschah in Göttingen. Die Entscheider waren jeweils Männer mit Vergangenheit, die vergehen sollte.
Die Lehren aus dem NS-Unrecht werden Rüthers Lebensthema
Rüthers hat das Thema des "Methodenbewusstseins", so z. B. in seiner Rechtstheorie 1999, genauso wenig losgelassen wie das "Entartete Recht" – so ein Buchtitel von 1988 – des Nationalsozialismus (mit 24 Lehren aus der Rechtsperversion des Nationalsozialismus). Er forschte nach dem "Gesicht der Rechtsperversionen in den deutschen Diktaturen", warnte vor dem "oligarchischen Richterstaat", einem "fortgesetzten Blindflug und Methodendämmerung" und der "heimlichen Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat". Er ging und geht keiner Kontroverse aus dem Weg: Weder 1968 mit vielen angebräunten Ordinarien noch 2011 mit deren Schülern. In der letzten großen Kontroverse mit Claus-Wilhelm Canaris in der Juristenzeitung ritt er eine Attacke auf dessen "personen- und geschichtsverfälschendes" Porträt von Karl Larenz.
Diesen Angriff parierte Canaris hart, aber im Ergebnis erfolglos. Die Larenz´sche Ideologie-Dogmatik mit völkischem Blutgeraune spricht für sich – und gegen Larenz.
Es ist ein Glücksfall, dass die "unbegrenzte Auslegung" nicht nur erschienen, sondern auch noch nach 54 Jahren in neunter Auflage veröffentlicht wird. "Das Buch ist ein Klassiker und gehört zu den wenigen akademischen Qualifikatiosschriften, die wie "Täterschaft und Tatherrschaft" von Claus Roxin, "Kritik und Krise" von Reinhart Koselleck oder "Strukturwandel der Öffentlichkeit" von Jürgen Habermas große Auflagenzahlen erreicht haben. Bernd Rüthers sind noch viele weitere Auflagen zu wünschen – sein gegen viele Widerstände durchgesetztes Werk bleibt aktuell und wichtig zu lesen; gerade vor dem Hintergrund der verstärkten Auseinandersetzung mit dem deutschen Justizunrecht im 20. Jahrhunderts durch die neuen Vorgaben für die Ausbildung von Juristinnen und Juristen in Studium und Referat.
Bernd Rüthers: Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 92022, 550 Seiten, 29,00 Euro.
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und im Vorstand des Forums Justizgeschichte.
* Textversion vom 31.10.2022: In der Vorversion wurde versehntlich die Dissertation von Reinhart Koselleck als seine Habilitation bezeichnet, und die Habilitation von Claus Roxin irrtümlich mit "Täterschaft und Teilnahme" tituliert.
Wie Bernd Rüthers sein Werk zum NS-Zivilrecht durchsetzte: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50016 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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