Mit Nachkriegsgeschichten aus dem Berlin der Jahre 1945 bis 1952 erzählt Ernst Reuß aus einer surrealen und brutalen Zeit der deutschen Justiz, Verwaltung und Politik.
Die amerikanische Filmkomödie "Eins, zwei, drei" von Billy Wilder (1906 – 2002) aus dem Jahr 1961 fiel, damals fast zwingend, beim deutschen Publikum durch.
Die Handlung, telegrafisch erzählt: In der geteilten Stadt, der Bau der Grenzmauer steht noch aus, wird dem Leiter der Coca-Cola-Filiale in Berlin (West) die Tochter des Konzernchefs anvertraut. Die erotisch entdeckungshungrige junge Dame verliebt sich in einen glühenden Nachwuchskommunisten aus Berlin (Ost), dargestellt vom halbstarken Horst Buchholz (1933 – 2003).
Filialleiter MacNamara, gespielt vom großen James Cagney (1899 – 1986), bedient sich aus Sorge um seine Karrierepläne zunächst sehr unfeiner Mittel, um den neuen Liebhaber der Scarlett Hazeltine (Pamala Tifin, 1942 – 2020) durch Zugriff der ostzonalen Staatsmacht loszuwerden, dann aber auch seiner Kontakte zu einer sowjetischen Handelsmission, um ihn wieder aus der Haft der DDR-Polizei freizubekommen.
Anstoß erregte seinerzeit nicht allein, dass der Film zur Unzeit gedreht worden war – das SED-Regime hatte mit der Mauer unter der ständigen und sichtbaren Drohung, tödliche Gewalt anzuwenden, endgültig die Flucht seiner Staatsangehörigen verhindert.
Hinzu kam, dass sich die rasante Komödie, mit einer für deutsche Verhältnisse ungewohnt raschen Abfolge von Pointen und Anspielungen, über eben diese Verhältnisse lustig machte: Vom Bürovorsteher Schlemmer, der stets die Hacken zusammenschlägt, wenn ihm MacNamara eine Weisung erteilt, über die Paranoia des SED-Regimes gegenüber westlicher Propaganda – in Gestalt des "Wall Street Journals" und einer Kuckucksuhr, die zur vollen Stunde den "Yankee Doodle" spielt – bis hin zum ostzonalen Polizeiverhör, in dem sächselnde Beamte den überzeugten Jungkommunisten solange mit dem Schlager "Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini" quälen, bis er zugibt, ein amerikanischer – "omeriganischer" – Spion zu sein.
Mit Blick auf die real existierende Folter und Unfreiheit in der DDR und in Berlin (Ost), musste der sarkastische Witz des Films auf zarte Seelen wie blanker Zynismus wirken. Erst in den 1980er Jahren wurde "Eins, zwei, drei" ein Erfolg – nicht zuletzt in Kinos von Berlin (West).
Man muss sich zu den Verhältnissen vielleicht erst den notwendigen Ernst erarbeiten.
Absurditäten in Nachkriegsarmut und beginnender Teilung
In seinem jüngsten Werk "Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten" erzählt der Jurist Ernst Reuß (1962 –) von der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 – es sind Geschichten von der Teilung der Stadt und des Landes, vom beginnenden Justizunrecht der DDR, aber auch surrealer Verhältnisse in Justiz und Verwaltung.
Ein Beispiel: In den späten 1940er Jahren wird die 26-jährige Angestellte Erika P., wohnhaft im britischen Sektor, vom Amtsgericht (AG) Berlin-Mitte wegen sog. Stromdiebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten und zwei Wochen verurteilt (Az. 89 Ds 63/47) – bis zu den großen Strafrechtsreformen der 1960er Jahre wird derlei gar nicht selten auch vollstreckt.
In ihrer Berufung führt sie an, dass die Sache unter eine für die westlichen Sektoren angeordnete Amnestie falle, hat damit jedoch keinen Erfolg, weil nicht ihr Wohnsitz, sondern der Sitz des AG Berlin-Mitte im sowjetischen Sektor maßgebend sei.
Auch für den sowjetischen Sektor war jedoch eine Amnestie für die meisten Verurteilungen bis zu einem Jahr Haft durch deutsche Gerichte verkündet worden, wobei die sowjetische Besatzungsmacht den 30. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution von 1918 als Anlass nahm. Die Amnestie in den westlichen Sektoren, einen Monat zuvor im Oktober 1948 in Kraft getreten, hatte offiziell den 100. Jahrestag der Revolution von 1848 als Grund genannt – etwas unzeitig, denn diese hatte bekanntlich im März begonnen.
In der Sache ging es natürlich weniger um historisch sauber datierte Jubiläen als darum, die durch Armuts- und Gewaltkriminalität – bei kargen personellen und materiellen Ressourcen – völlig überlastete Berliner Justiz von der Verfolgung weniger schwerwiegender Delikte zu befreien.
Für Diebstähle, die nicht selten Lebensmittel oder Wertgegenstände betrafen, mit denen sich der gemeine Berliner auf dem Schwarzmarkt Nahrungsmittel zu beschaffen hoffte, verzeichnet Reuß – nach Auswertung erheblicher Aktenmengen – in den ersten Nachkriegsjahren eine interessante Tendenz: Überwogen 1945 mit 70 Prozent noch Geld- gegenüber meist kurzen Freiheitsstrafen, waren es 1947 nur noch zehn Prozent Geldstrafen. Reuß deutet dies so:
"Möglicherweise wirkte sich der Einfluss der Alliierten Kommandantur, des Magistrats und der Gerichtspräsidenten aus. Eventuell bestand Unsicherheit, und man sperrte deshalb den Delinquenten 'sicherheitshalber' lieber ein. Zudem dürfte die spezielle Nachkriegssituation eine entscheidende Rolle gespielt haben. Der immense Anstieg gerade von Eigentumsdelikten hat gewiss auch dazu geführt, dass die Richter einfach keine andere Möglichkeit mehr sahen, um der Flut derartiger Delikte Herr zu werden."
Lektüre fürs zeithistorische Kolloquium – mit Film oder ohne
Die wechselhafte Nachkriegsgeschichte Berlins trug zu einem surrealen Bild der öffentlichen Ordnung bei. Zunächst hatte im April 1945 die sowjetische Besatzungsmacht – begleitet vom zentralen Nukleus des späteren SED-Regimes, der in der Sowjetunion zusammengestellten "Gruppe Ulbricht" – das Sagen und ordnete eine erste Umstellung des Justizapparates an, der die amerikanischen, britischen und französischen Besatzungsmächte nur teilweise folgen mochten, als sie ab Juli 1945 ihre Sektoren von Groß-Berlin übernahmen.
Reuß beschreibt, welche Konsequenzen die Querelen unter den alliierten Mächten hatten. Auf ein Interregnum mit einer Zusammenlegung von Amts- und Landgerichten folgte eine Wiederauferstehung des Instanzensystems nach dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877. Erst nach dem Ende der sowjetischen Mitwirkung am Alliierten Kontrollrat und der Kommandantur im Jahr 1948 griffen im Ostteil die Organisation der späteren DDR-Justiz mit ihren Bezirksgerichten und neuartigen Richtern ohne hergebrachtes juristisches Studium durch.
Im November 1948 kam es zur Trennung des Kammergerichts (KG), das sich im sowjetischen Sektor Berlins befand. Der überwiegende Teil der Richterschaft – unter teils klandestiner Mitnahme von Akten – suchte sein Heil im Westen. Bis zur Ablösung des KG (Ost) durch das Oberste Gericht der DDR im Jahr 1959 und seiner Auflösung zwei Jahre später, bestanden zwei Gerichte dieses Namens, das KG (West) als Oberlandesgericht für Berlin (West).
Reuß zeichnet ein Panorama der personalpolitischen Räuberpistolen hierzu. So gibt es haarsträubende Geschichten, wie auf alliierten Befehl kurzerhand Richter und Staatsanwälte ihr Amt verloren oder auch – vorzugsweise im östlichen Sektor – Gefahr liefen, in Haft zu geraten.
Ein Gerichtspräsident machte sich nicht nur politisch unbeliebt, sondern auch bei seinen Mitarbeitern, weil er die regelmäßige Durchsuchung ihrer Aktentaschen verfügte – denn aus den Sitzungssälen waren Holzvertäfelungen verschwunden, im eisigen Berliner Winter wertvolles Heiz- bzw. Tauschmaterial für den Schwarzmarkt.
Fortsetzungen und wenig rosige Neuanfänge
Die Amnestieprobleme der verurteilten "Stromdiebin" aus dem britischen Sektor gaben ein harmloses Beispiel für das – aus der Perspektive wünschenswerter Verwaltungseffizienz – haarsträubende Chaos, das die Teilung Berlins über die ohnehin bestehende Notsituation hinaus erzeugte.
Die Teilung von west- und ostzonalen Polizeibehörden stand der effektiven Ermittlungsarbeit entgegen und begünstigte die Raubkriminalität, die sich nicht zuletzt im Umfeld der Schwarzmärkte entwickelte. Eine Flucht über die Sektorengrenzen, jedenfalls über die Ost-West-Grenzen, beendete die polizeiliche Nacheile. Man spottete, beispielsweise am Pariser Platz sei es eine Frage von wenigen Metern, um straffrei zu bleiben.
Bis der Mauerbau auch die sozialen Beziehungen abschnitt, warf die Trennung der Verwaltungsverhältnisse unzählige Probleme auf, beispielsweise, in welcher Währung die Gerichts- und die Anwaltsgebühren zu zahlen seien.
Von einer weniger aus der Teilung denn aus der Personalnot der Berliner Justiz geborenen Lösung, auf die nachzuahmen kein künftiges Human Resources Center je verfallen dürfte, berichtet Reuß: Seit 1946 wurden Rechtsanwälte zur Tätigkeit als Staatsanwälte und Richter dienstverpflichtet. Unter den bis zu 120 Anwälten traf das auf wenig Gegenliebe, teils wurde mit Streik und Kanzlei-Konkurs gedroht, sodass ihnen erlaubt wurde, neben ihrem Amt als Richter bzw. Staatsanwalt weiter als Rechtsanwalt tätig zu bleiben, sofern in den Mandaten kein Interessenkonflikt entstünde.
Ganz ohne Vorbild war das zwar nicht. Schon die NS-Justiz hatte Rechtsanwälte für andere Dienste zwangsweise herangezogen, für die die Befähigung zum Richteramt vorausgesetzt wurde. Gegenüber den neuen, zivileren Herren der Alliierten wagte man in Berlin nun den kleinen Anwaltsstreik, um dabei auch die Kanzlei zu behalten.
Politikgeschichte trifft Verwaltungsgeschichte trifft Fallgeschichten
Nicht zuletzt in den konkreten Fallgeschichten, die Reuß in seine Erzählung von der politischen und verwaltungstechnischen Teilung Berlins einwebt, wird die Brutalität der neuen Justiz im Osten deutlich.
Das Todesurteil gegen den schwerkriminellen, aber noch nicht volljährigen Werner Gladow (1931 – 1950) – seine Bande hatte sich das Durcheinander der Berliner Polizeiverwaltung für Raubzüge zunutze gemacht – stützte die ostzonale Justiz auf das NS-Jugendstrafrecht. § 20 Reichsjugendgerichtsgesetz (1943) erlaubte die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts, wenn das "gesunde Volksempfinden es wegen der besonders verwerflichen Gesinnung des Täters und wegen der Schwere der Tat" erforderte. Ein Gutachter hatte zwar attestiert, Gladow fehle es an der ebenfalls erforderlichen sittlichen und geistigen Reife. Unter der persönlichen Aufsicht von DDR-Justizminister Max Fechner (1892 – 1973) und Generalstaatsanwalt Max Berger (1893 – 1970) berücksichtigte das Gericht diesen Befund aber nicht.
In der sogenannten Affäre Conti, einer durch die wirtschaftspolitische Absonderung der SBZ und DDR von den westlichen Besatzungsgebieten bedingten Auseinandersetzung von dort enteignetem, teils aber im Westen belegenen Betriebsvermögens organisierte die neue DDR-Justiz einen regelrechten Schauprozess, von dem Reuß kursorisch erzählt.
Das Strafgericht wurde im Theater von Dessau gehalten, ein von der SED-Führung eingesetztes Organisationsbüro sorgte bis auf die Ebene von Sprechzetteln für einen choreografisch komponierten Verlauf. Karl-Eduard von Schnitzler (1918 – 2001), der bekannte DDR-Rundfunkagitator, und eine boulevardjournalistisch aufgemachte Prozess-Sonderberichterstattung sollten dem Volk vorführen, dass die Angeklagten "ungeheure Verbrechen gegen unsere Demokratie" – also das SED-Regime – und "gegen unseren wirtschaftlichen Aufbau" – von dessen Plan- und Misswirtschaft abzulenken galt –, begangen hatten. Der Todesstrafe entgingen die Angeklagten nur, so Reuß, weil man diese für Beschuldigte mit echtem West-Hintergrund vorbehalten wollte.
Die Lektüre von Ernst Reuß' "Endzeit und Neubeginn" empfiehlt sich allein schon als Gegengift gegen die in den vergangenen Jahren zunehmend triviale, ja peinliche Popularisierung von historischem (Halb-) Wissen, durch Formate wie "Ich bin Sophie Scholl".
Reuß zeigt, wie sich das mitunter komische Surreale mit der Gewalt und wie sich die alte Ordnung mit dem Durcheinander der neuen Obrigkeiten in Berlin überschnitten. Wer sich dadurch nur gebildet und nicht auch unterhalten fühlt, mag einfach nach der Lektüre noch Billy Wilders "Eins, zwei, drei" anschauen.
Ernst Reuß: Endzeit und Neubeginn. Berliner Nachkriegsgeschichten. Berlin (Metropol) 2022, 282 Seiten, gebunden, 24 Euro.
Die geteilte Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg: . In: Legal Tribune Online, 20.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52517 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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